Obreht, Téa - Im Morgenlicht

Veröffentlicht am 14.07.2025
Klimakatastrophe, Plagiat, Flucht, Kriegsverbrechen und die Suche nach der Wahrheit aus der Perspektive eines jungen Mädchens.
Die Handlung von Téa Obrehts Roman spielt in der Zukunft, aber nicht in der allzufernen, denn viele der im Buch realen Szenarien sind schon heute spürbar. Der Schauplatz ist Island City, eine amerikanische Stadt an der Südspitze von South Falls Island, die aufgrund einer Klimakatastrophe halb überflutet ist und ins Meer abzurutschen droht.
Im 33 Stockwerke hohen Gebäude mit dem Namen „Morgenlicht“ finden die 11-jährige Sil und ihre Mutter nach einer langen Flucht aus der Alten Welt, die tausende Kilometer entfernt auf einem anderen Kontinent liegt, Zuflucht bei Tante Ena. Sie ist die Hausmeisterin des seltsamen Gebäudes, in dem schon viele Wohnungen leer stehen. Mutter und Tochter sind aufgrund des Wiederansiedlungsprogramms in die Stadt gekommen, in der die noch verbleibenden Bewohner zwischen Zweifel und Hoffnung, dass alles wieder so wird wie früher, leben. Allerdings findet sich kein Schulplatz für Sil, im Haus gibt es keine anderen Kinder und sie muss in der fremden Umgebung damit klarkommen, dass ihre Mutter Herkunft und Vergangenheit radikal hinter sich lassen will und ihrer Tochter verbietet, außerhalb der Wohnung ihre Muttersprache „Unser“ zu sprechen.
Tante Ena dagegen hat ihre Erinnerung an die alte Heimat nicht gekappt, erzählt Sil von ihrer Kindheit, vom Obstgarten der Großmutter und von Sagen und Mythen aus der Alten Welt. Besonders beeindruckt ist Sil von der Sage um die „Vila“, einem Berggeist, der Menschen in Tiere verwandeln kann. Sie fühlt sich von diesen Erzählungen angezogen, weil sie ihr erlauben, in ihrer Lebenssituation, die von Unsicherheit geprägt ist, ihrer Sehnsucht nach Wahrheit in einer Art magischen Realismus zu stillen.
Bald verfestigt sich in ihr die Gewissheit, dass die seltsame Frau, die im 33. Stockwerk das Penthouse bewohnt und jeden Abend mit ihren drei Hunden spazieren geht, eine solche „Vila“ ist und dass ihre Hunde in Wirklichkeit verwandelte Menschen sind. Hinter dem Rücken ihrer Mutter, die nach Tante Enas Tod selbst Hausmeisterin wird, spioniert das junge Mädchen der vermeintlichen „Vila“ nach und bekommt dabei Hilfe von einem Schriftsteller und später auch von der etwa gleichaltrigen Mila, die mit ihrer Mutter in eine Wohnung im „Morgenlicht“ gezogen ist. Als Milas Vater auftaucht, bricht die Realität mit voller Wucht in Sils Leben ein, denn ihre Mutter erkennt in ihm einen Kriegsverbrecher, der in der alten Heimat den Tod unzähliger Menschen (so auch Sils Vater) auf dem Gewissen hat. Mutter und Tochter können nicht im „Morgenlicht“ bleiben und müssen wieder fliehen.
Téa Obreht macht es ihren Leserinnen und Lesern nicht ganz leicht, die unterschiedlichen Erzählstränge zu einem kohärenten Ganzen zu verweben. Wer sich aber auf die Lektüre dieses vielschichtigen Romans einlässt, wird mit interessanten Themen wie Klimakatastrophe, Plagiat, Flucht, Kriegsverbrechen und der Suche nach der Wahrheit konfrontiert. Und das alles aus der Perspektive eines jungen Mädchens, das in einer unsicheren Lebenssituation Halt sucht. Die Autorin, 1985 in Belgrad geboren, kam mit zwölf Jahren in die USA und hat vermutlich eigene Erfahrungen und Erlebnisse in die wunderbare Figur der Ich-Erzählerin gelegt.
Ida Dehmer
Obreht, Téa - Im Morgenlicht
Roman. Berlin: Rowohlt 2025. 352 S. - fest geb. : € 26,50 (DR) ISBN 978-3-7371-0205-6 Aus dem Amerik. von Bernhard Robben