Othmann, Ronya - Vierundsiebzig

Othmann, Ronya - Vierundsiebzig

Veröffentlicht am 15.05.2024

Eine Dokumentation des Genozids am Volk der Jesiden im Nordirak im Jahr 2014.

In dem stark autobiografisch geprägten Buch (das eher eine Art Reportage, eine Dokumentation ist als ein Roman) geht es um den Genozid, der 2014 vom Islamischen Staat am Volk der Jesiden im Nordirak verübt wurde. Ronya Othmann, Tochter eines säkularen Jesiden und einer Deutschen, berichtet darin von der Ermordung, Vertreibung und Versklavung Tausender Jesiden unter Mithilfe der benachbarten Muslime.

Der Titel des Buches bezieht sich auf die 74 bisherigen Völkermorde, die die jesidische Gemeinschaft im Lauf ihrer Geschichte durchlebt hat, und legt den Schwerpunkt auf das Leid und die Zerstörung, die sie erfahren mussten. Ronya Othmann ist selbst an die Stätten ihres Volkes gefahren und folgt in dem Buch ihrer Protagonistin Leyla, deren Leben sich unwiderruflich ändert, als ihr Dorf von IS-Kämpfern angegriffen wird. Die detailreiche Schilderung ihres Schicksals – von ihrem friedlichen Alltag vor dem Angriff bis zu der grauenvollen Gefangenschaft und Flucht – wird mitfühlend, aber auch konsequent und ungeschönt geschildert.

Mit großer Sensibilität und ohne unnötige Dramatisierung vermittelt Othmann solcherart die unfassbare Tragödie der Menschen und behandelt klug solch komplexe Themen wie Identität, Verlust und Überleben. Sie erzählt von der Qual der Opfer, von der psychischen Verwüstung und Sprachlosigkeit der Hinterbliebenen, von verdurstenden Kindern, auch von der Rolle der Türkei und dem eigenen „antimuslimischen Affekt“. Es ist eine Dokumentation der Enthemmung und Entmenschlichung, in der sich unglaubliche Grausamkeiten aneinanderreihen.

Das ist hart zu lesen und auch inhaltlich oft durchaus fordernd, wenn man bisweilen den Überblick über all die Ortschaften (die ich mitgoogelte), Milizen und Verflechtungen verliert. Doch Othmann schafft durch ihre spezielle Perspektive – einerseits eingebunden, andererseits aus westlich-aufgeklärter Beobachterposition – auf subjektive Weise in betont nüchternem Stil eine wichtige sprachlich-politische Aufbauarbeit. Es ist ein extrem eindrückliches und bedeutendes Buch über ein äußerst dunkles Kapitel der jüngeren Geschichte. "Vierundsiebzig" ist ein großes historisches Dokument, das zur Erinnerung und zum Verständnis der Leiden der Jesiden beiträgt. Ein ergreifendes literarisches Zeitzeugnis.
Georg Pichler

Othmann, Ronya - Vierundsiebzig
Roman. Hamburg: Rowohlt 2024. 512 S. - fest geb. : € 27,50 (DR) ISBN 978-3-498-00361-6

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