Peter Rosei - Was ist hier los?
Veröffentlicht am 08.06.2020
Robert Leiner über Peter Rosei, Landschaftsmaler und Gestalter von großen Gesellschaftspanoramen
Peter Roseis zahlreiche Romane und Reisebücher wirken wie leicht hingeworfen, leichte Kost, schnell skizziert und spontan geschrieben. Doch sind Peter Roseis Prosabände, die seit 1972 beinahe regelmäßig erscheinen, überaus virtuos gestaltet und eminent politischen Inhalts. Sie spiegeln nichts weniger als die Auflösung der Ordnung, die Identitätszweifel, die steigernde Verunsicherung über die eigene Existenz in unserer Gesellschaft wider. Seine Bücher sind teils in Zyklen geordnet, etwa das „15000-Seelen-Projekt“ oder die „Wiener Dateien“, in dem es um Macht und Gier, um die seelenlose Welt des Kapitals geht.
Schon nach seinen ersten beiden Erzählungsbänden „Landstriche“ (1972) und „Wege“ (1974) galt Peter Rosei als herausragender Landschaftsschilderer. Sie erzählen genau und bildkräftig vom Land und Landleben, jedoch nicht idyllisierend, sondern vor allem von der kargen Existenz, die stets gegen eine gleichgültige oder feindliche Natur erkämpft werden muss, die die Menschen selbst zur Gewalt verbiegt. Und sie zeigen die Menschen einer übermächtigen Natur hilflos ausgesetzt, schwankend zwischen Gleichgültigkeit und Ausbrüchen von blindem Hass. Mitunter auch zu Zerstörungsakten getrieben, so wie auch später die beiden Brüder in dem später erschienenen Buch „Franz und ich“ (1985), die nicht einmal vom Vater loskommen, als sie ihn gemeinsam erschlagen haben. Das Elend hört wahrlich nie auf, denn die Natur lässt sich in Roseis Texten nicht besiegen, sie lässt sich auch nicht bewohnen, obwohl sie durchaus Züge eines zeitlosen Paradieses trägt. Man kann sich der Natur, die dadurch einen seltsamen lebensfeindlichen Aspekt bekommt, nur noch unterwerfen und sich selbst, auch die eigene Psyche, zerstören.
In dem 1973 herausgekommenen Roman „Bei schwebendem Verfahren“ zeigt er den Allmachtsanspruch der Gesellschaft, indem er im Rückgriff auf Kafkasche Metaphern von einem Ministerium erzählt, in dem ein großes, neues Gesetzbuch erarbeitet wird. Vor allem das in sich kreisende schlüssige Wahnsystem der Bürokratie, die Dumpfheit der untergeordneten Mitarbeiter und die Hybris der höheren Angestellten werden deutlich dargestellt. Der Roman schließt mit einem Feuer, das das Ministerium und seine Scheinrationalität zerstört.
Peter Rosei wurde als Sohn eines Friseurs und späteren Eisenbahnbeamten und der Inhaberin eines Milchgeschäfts am 17. Juni 1946 in Wien geboren. Sein jüngerer Bruder Franz Rosei ist Bildhauer und Zeichner und hat einige seiner Bücher illustriert. Nach der Matura studierte Peter Rosei in Wien Rechtswissenschaften und promovierte mit einer Arbeit über römisches Recht. Nach dem Wehrdienst war er als Kunsthändler tätig und zwischen 1969 und 1971 Sekretär des Malers Ernst Fuchs. Danach leitete er ein Jahr lang einen Wirtschaftsverlag. Seit ist er freier Schriftsteller, lebte bis 1975 in Wien, dann in Bergheim bei Salzburg und seit 1981 wieder in Wien.
So als ob er sich mit seinem ersten Roman „Bei schwebendem Verfahren“ (1973) befreit hätte, änderte sich seine Prosa. In zwei langen Texten („Entwurf für eine Welt ohne Menschen. Entwurf zu einer Reise ohne Ziel“, 1975) beschreibt er detailliert eine karge, bis auf den Erzähler menschenleere und deswegen nicht bedrohliche Natur, durch die sich der Erzähler bewegt, und, im zweiten „Entwurf“, den parabelhaften Weg einer Gruppe von Menschen durch Landstriche und Orte. In den folgenden Texten geht Rosei noch genauer auf die Zersplitterung der Welt ein.
In virtuoser Montagetechnik von Fragmenten aus den unterschiedlichsten Genres (Traum, Fantasie, Zitat) und ohne objektivierende Distanzierung erzählt er, indem er sich in Antoine de Saint-Exupéry, Robert Louis Stevenson und Till Eulenspiegel versetzt, vom „Fluss der Gedanken durch den Kopf“ (1976), in dem sich keine feste Wirklichkeit mehr ergeben will, kein fester Bezugsrahmen, keine Gültigkeit, sondern nur noch Chaos und ein sich in Bewusstseinssplitter zerfaserndes Ich. Rosei nannte diese Prosa „Logbücher“, mit deren Hilfe er die Wirklichkeit durch seine literarischen Vorbilder wahrnehmen will.
In einem Rückgriff auf die Geschichte Edgar Allan Poes beschreibt er in seinem kriminalistisch-fantastischen Roman „Wer war Edgar Allan?“ einen Drogensüchtigen, der in Venedig einen geheimnisvollen Mann namens Edgar Allan trifft und von ihm fasziniert ist, ihn aber nie fassen kann. Poetisch und düster erzählt, sind Identitätszweifel, Ich-Auflösung, sich steigernde Verunsicherung über die eigene Existenz und das romantische Motiv des Doppelgängertums die beherrschenden Themen des Buches, das 1984 von Michael Haneke, mit Paulus Manker und Rolf Hoppe, verfilmt wurde.
Auch in seinem Roman „Von Hier nach Dort“ (1978) schildert er Bewusstseinszustände zwischen Realität und Wahn, hier lässt sich die Wirklichkeit ebenfalls nicht sicher erschließen, sondern nur in Ausschnitten andeutend erzählen. Selten gibt es kurze Beschreibungen eines flüchtigen und intensiven, aber auch vagen Glücks. Eine Prosa als einfache Allegorie von der Ziellosigkeit des Lebens und der ständigen Bewegung als Lebenssinn. Ein weiteres Außenseiterschicksal wird in „Das schnelle Glück“ (1980) erzählt: Ein Arbeitsloser, von der Gesellschaft ausgestoßen und psychisch verunsichert, fällt immer mehr aus der Konvention der Sprache heraus und erlebt nur kurze Schübe von Wahrnehmungsrausch, ist schließlich nur mehr ein Rätsel und nicht mehr entschlüsselbar.
Auch in den weiteren Büchern sind die Figuren der Welt mehr ausgeliefert, als dass sie mit ihr umgehen. In dem sprachspielerischen Roman „Die Milchstraße“ (1981) und einem mehrbändigen Prosazyklus, in dessen Zentrum „15000 Seelen“ (1985) steht, wird systematisch die Möglichkeit untersucht, wie man noch handeln, Glück und Ganzheit herstellen kann. Dabei greift Rosei auch auf bizarre Ritualspiele zurück, die seinen Texten eine groteske Ironie verleihen, wie das blutige Dauerrasieren und weitere Entertainment-Spektakel, die eine entfremdete Wettbewerbswelt zeigen, auch auf sexuellem Gebiet, bis sie in einer Selbstvernichtung der Menschen gipfelt.
Gerne schildert Peter Rosei auch Paarbeziehungen, wie in „Mann & Frau“ (1984), wo er die Lebensverläufe eines Paares nach der Trennung erzählt, eine Geschichte, die in die Desillusionierung mündet. Oder in „Die Wolken“ (1986), in dem ein Besucher eine heile Familie zerstört, weil er und die Frau sich verlieben. In „Der Aufstand“ (1987) ist es wieder ein Einzelner, der Ökonomieprofessor Herbert, der als zynisch gewordener „schwarzer Romantiker“ in der Welt nur noch Katastrophen sieht und keine Handlungsmöglichkeiten mehr findet. In einer der Erzählungen von „Der Mann, der sterben wollte“ (1991) soll der Schriftsteller S. einen Roman über den todkranken Industriemanager Beyer schreiben und verzweifelt darüber selbst.
Deutlich spiegelt sich in Peter Roseis Texten die Zerstörtheit der Welt auch in seinem Stil wider, in den konträren Details und der unlogischen Reihung von Sätzen. Es gibt in ihnen keine offizielle Ordnungsinstanz mehr, nur noch Symbole und Metaphern, die auf eine höhere Ordnung verweisen, die aber längst obsolet ist. Es gibt auch keine gleichgeordneten, sondern nur noch auseinander fallende, nebeneinander bestehende Ausschnitte der Wirklichkeit, die der Leser selbst zusammenfügen, voneinander abgrenzen und bewerten muss.
Sowohl „Unser Landschaftsbericht“ (1988), der die ungeordnete Natur, als auch der Roman „Rebus“ (1990), der die moderne Großstadtkomplexität beschreibt, zeigen eine Fülle von Details und Verbindungen, aber keinen organischen Zusammenhang.
In „Persona“ (1995) zeichnet er wunderbare Porträts, wie etwa vom Bauernburschen, der aus einem kärntnerisch-slowenischen Dorf zum großen und erfolgreichen modernen Künstler aufstieg. Franz Wukowar hat mit Ernst Fuchs zwar keine Ähnlichkeit, aber das Milieu der Sammler und Liebhaber einschließlich der Schickeria ist Rosei geläufig. Auch hier fixiert er jede Bewegung genau. Oder die Geschichte der alten Frau Lagrande innerhalb der exakten Topographie ihres Pariser Viertels, man lernt das Mädchen Kathi schätzen, das die Tochter der Frau Lagrande und die Freundin des Künstlers Wukowar ist und einmal Catherine hieß. All dies beschreibt er in einer Sprache, die an Kraft und Genauigkeit, an Präzision und Poesie durchaus mit den großen Landschaftsmalern wetteifert, wie ein Kritiker der FAZ einmal meinte.
Auch in diesen Büchern wird in der Fülle der Formen und Stilebenen das Durcheinander der Moderne auch stilistisch, vielfältig und konträr, dargestellt.
Das zeigt sich auch in seinen atmosphärisch dichten Reisetexten. Beginnend mit „Reise ohne Ende“ (1983), dann in den Bänden „Fliegende Pfeile“ (1993), „Album von der traurigen und glücksstrahlenden Reise“ (2002) und vor allem in „Die große Straße“ (2019) sammelte Peter Rosei seine Reiseaufzeichnungen. Es sind Reisen aus fünf Jahrzehnten, was sich in fünf Jahrzehnten an Aufzeichnungen angesammelt hat, Reisen nach Amerika, Asien, quer durch Europa. Man lernt Peter Rosei als Reisenden kennen, der nicht nur scharf beobachtet und viel weiß, sondern sich auch durchlässig macht für Eindrücke und Bilder, für Gerüche und Klänge, der sich dem Fremden geduldig annähert und ihm dennoch seine Faszination belässt. Von Peking nach Los Alamos, von Seoul nach Moskau, von Paris über Bratislava nach Texas und Istanbul führen ihn dabei die „großen Straßen“, und das erfüllt den Autor durchaus mit Dankbarkeit für die Buntheit der Welt, Vielfalt des menschlichen (Über)lebens und vor allem, dass er selbst dies alles erleben kann. Peter Rosei interessiert sich dabei neben den Menschen auch immer für die sozialen Verhältnisse, für die Wirtschaft des jeweiligen Landes.
Seit 2005 bringt Peter Rosei einen neuen Romanzyklus heraus, die „Wiener Dateien“.
„Wien Metropolis“ (2005) ist weder ein konventionelles Monumentalgemälde noch eine Folge loser Skizzen oder experimenteller Stimmungsbilder. Es ist ein Patchwork aus Geschichte und Geschichten, in denen es um Wiener Schicksale geht. In Wien herrscht Goldgräberstimmung („Was du brauchen kannst, das nimmst du dir!“), der Zweite Weltkrieg ist vorbei, und verwegene Existenzen sind auf dem Sprung in ein neues Leben. In diesem großartigen Auftakt zu den „Wiener Dateien“ spannt Peter Rosei den Bogen von der Nachkriegskorruption bis in die Villen der arrivierten Geschäftsleute der 80er Jahre. Kunstvoll verknüpft er die Lebensbahnen von Parvenüs und Lebemännern, Professoren und Politikern, Unternehmergattinnen und Erfolgsfrauen zu einem dichten Netz von Beziehungen, in dessen Mittelpunkt die Freunde Alfred und Georg stehen, das Wirtschaftswunderkind und der Anarchist. Nebenbei ist es auch ein Porträt einer Stadt, in der „alles käuflich und nichts heilig“ ist.
Auch „Das große Töten“ (2009) ist ein großer Roman über Wien und Österreich seit dem Zweiten Weltkrieg in stark verdichteter Form, mit beschädigten Figuren, die eine Identifikation sehr schwer machen. Es beginnt ganz harmlos. Der aus ärmlichen Verhältnissen stammende Paul Wukitsch ist außergewöhnlich intelligent. Seine Mutter ermöglicht ihm ein Theologiestudium, doch Pauls Skepsis der Kirche gegenüber hat einige Verstöße und schließlich seinen Ausschluss aus dem Priesterseminar zur Folge. Auch Alexander Altmann macht eine abweichende Karriere. Er hat zwar reich geheiratet, doch als seine Frau Ulla Selbstmord begeht und damit einen Skandal heraufbeschwört, verändert sich alles. Zwei Lebenswege, wie sie nicht unterschiedlicher sein könnten, kreuzen sich und die Geschichte nimmt einen überaus überraschenden Verlauf.
In „Geld!“ (2011) zeigt Peter Rosei wie auf Umwegen und doch fast gesetzmäßig ein Klima entsteht, in dem sich zerstörerische Wünsche mit allzugroßen Hoffnungen paaren. Das Leben ist hier nur eine Chance, und Georg Asamer hat sie genützt: Er hat es zum Eigner einer erfolgreichen Werbeagentur gebracht. Als er mit seinem Protegé Andy Sykora einen Nachfolger installiert, muss er erkennen, dass er alt geworden ist – die Geschäftsstrategien haben sich geändert. Auch Hans Falenbruck, eine Zufallsbekanntschaft von Sykora, Erbe eines Schweizer Pharmakonzerns, geht mit der Zeit: Er reist nach Wien, um von hier aus die Ostmärkte zu erobern. Irma Wonisch wieder, Tochter aus gutem Haus, eine alte Liebe von Falenbruck, tut sich mit Tom Loschek zusammen. Der aufstrebende Broker weckt mit seinen Investitionsideen den Abenteurergeist, der sie dann alle verbindet. Das Buch ist ein packendes, scharfsinniges, böses Puzzle mit durchaus komischen Zügen.
„Madame Stern“ (2013), das ist Gisela Stern, sie hat es geschafft. Aus bescheidenen Verhältnissen stammend, heiratete sie in eine wohlhabende Familie ein, erarbeitete sich eine Karriere in einer Bank und verkehrt in der sogenannten besseren Gesellschaft. Was bleibt, ist eine ungewisse Sehnsucht, ein Gefühl der Deplatziertheit. Als ein gut aussehender, ehrgeiziger Mann in ihr Leben tritt, beginnt sich das Karussell der Macht zu drehen, die Verknüpfung von Politik und Begehren nimmt ihren Lauf, ein Spiel um Eros, Macht und Geld. Peter Rosei inszeniert mit den Mitteln seines lakonischen Stils gekonnt den Aufstieg und Fall einer Frau vor dem Hintergrund einer höchst korrupten Gesellschaft.
„Die Globalisten“ (2014)
Der Schweizer Geschäftsmann Weill, Spezialist für Import/Export, meint im Wiener Café Imperial philosophisch zu seinem Partner Blaschky: „Wir versuchen doch alle nur, auf der goldenen Kugel zu tanzen, ganz egal, wie und wohin sie rollt“, Währenddessen fantasiert der abgehalfterte Dichter Josef Maria Wassertheurer am Brunnenmarkt über sein nächstes Meisterwerk und in St. Petersburg erwartet der geheimnisvolle Herr Tschernomyrdin einen entscheidenden Anruf. Das kriminelle Netzwerk der Globalisten spannt sich von Zürich und Paris nach Bukarest und Moskau bis ins idyllische Salzkammergut. Peter Rosei schuf hier mit leichter Hand ein Satyrspiel, das die Wirklichkeit wahrlich zur Deutlichkeit entstellt, sehr bösartig.
„Karst“ (2018) beginnt an der Grenze zwischen Polen und der Slowakei, endet mit einem filmreifen Showdown nahe Piran, großteils ist der Roman jedoch in Wien angesiedelt. Hier tun sich Geschäftemacher und Parvenüs um, deren Skrupellosigkeit nur von einer gewissen Art von Melancholie etwas gemildert wird. Vier Figuren treten auf: ein Turbokapitalist, der ins gewinnbringende Flüchtlingsgeschäft einsteigt, seine vergnügungssüchtige Freundin ,ein alternder Theaterkritiker und ein slowenischer Gigolo, der sich von dem Kritiker aushalten lässt. Auch in Beziehungen geht es hier ausschließlich ums Geld: „Kalman beschenkte Tonio gern. (…) Schenken macht Spaß. Es befriedigt und erhöht.“ Peter Rosei untersucht wieder entlarvend den Zustand unserer Gesellschaft, vor allem der österreichischen.
In einem Interview meinte er denn auch einmal über seine Motivation zum Schreiben: „Ich wollte immer wissen: Was ist hier los? Diese einfache Frage wollte ich beantworten. Wenn ich aus dem Fenster sehe, dann ist da ein Durcheinander, da gehen irgendwelche Leute. Da fährt ein Autobus, da steht ein Baum im Wind, was immer es ist, ich möchte mir das erklären können, mir einen Reim darauf machen.“
Foto: (c) Gabriela Brandenstein