Reinhard Kaiser-Mühlecker - Beobachten und Bewahren, Weggehen und Heimkehren oder die Liebe, die Arbeit und der Tod

Reinhard Kaiser-Mühlecker - Beobachten und Bewahren, Weggehen und Heimkehren oder die Liebe, die Arbeit und der Tod

Veröffentlicht am 10.02.2025

Heimo Mürzl über Reinhard Kaiser-Mühlecker: Autor, Landwirt und Gewinner des Österreichischen Buchpreises 2024.

Reinhard Kaiser-Mühlecker verknüpft in seinen Romanen gekonnt die unterschiedlichsten Themen wie modernes Bauerndasein, Landflucht, Herkunft und Familie, Dörfersterben, Weggehen und Heimkehren miteinander. Auch kreisen seine Bücher um Selbstfindung und Glück, Arbeit und Liebe. Sinnsuche, Moralvorstellungen, existenzielle Verlorenheit, Verlust und Tod. Wie er dabei zwischen idyllischen Natur- und Landschaftsbeschreibungen, literarischer Kolportage und archaischer Tragödie wechselt, ist große Kunst.

„Das Leben wird immer schlecht genug sein, um die Sehnsucht nach etwas Besserem im Menschen nicht auszulöschen.“ (Maxim Gorki)

Geboren 1982 in Kirchdorf an der Krems, wuchs Reinhard Kaiser-Mühlecker im oberösterreichischen Eberstalzell auf und studierte Landwirtschaft, Geschichte und Internationale Entwicklung in Wien. Heute lebt er als Autor und Landwirt wieder in Eberstalzell, wo er in vierter Generation eine sechzehn Hektar umfassende Landwirtschaft betreibt und erfolgreiche, viel gelesene und mit zahlreichen Preisen ausgestattete Bücher schreibt.

Während er schon von Kindheitstagen an wusste, dass er Bauer werden würde, entwickelte sich das Interesse und die Leidenschaft für die Literatur erst später, in der Zeit seines Zivildienstes in Südamerika, in der alle gelesen und über Bücher geredet haben. Damals wurde auch er zum Leser. Sein Dasein als Landwirt hat viel mit strukturiertem Alltag und harter Arbeit zu tun, während sein Zugang zur Literatur ein poetischer und träumerischer ist. Trotzdem gelingt es Kaiser-Mühlecker, die zwei Berufe, Landwirt und Autor, gut miteinander zu verbinden und in seinen Lebensalltag zu integrieren. Die warmen Monate stehen im Zeichen der Landwirtschaft, die kalten und unwirtlichen Wintermonate sitzt er vor allem am Schreibtisch. Er könne sowohl als Landwirt als auch als Autor selbst gestalten und habe es zum Großteil selbst in der Hand, wie sich etwas entwickelt. Das sei ein beglückendes Gefühl. Mit seinen Romanen erweist sich Reinhard Kaiser-Mühlecker als einfühlsamer und genauer Beobachter des (Land-)Lebens und der Menschen und als Bewahrer von Sprache, Landschaften, Sehnsüchten und Wünschen. Die Einsicht, dass das Leben nicht auf Glück oder Unglück reduzierbar ist, teilt der Autor mit seinen Romanfiguren ebenso wie die Erkenntnis, dass „Zerrissenheit die Grundgrundierung unseres Daseins“ ist.

SPRACHLOSIGKEIT UND ENTFREMDUNG

Die Welt der Dörfer und der Landwirtschaft, die sozialen Regeln der sogenannten Provinz, fragile Beziehungen und sprachlose Familien, das Weggehen und das Heimkehren, Leistungsdruck und die Sehnsucht nach Liebe, Geborgenheit und Sicherheit prägen die psychologisch dichten und sprachlich genauen Romane von Kaiser-Mühlecker.

Für seinen 2008 erschienenen Debütroman „Der lange Gang über die Stationen“ erhielt er bereits vor der Veröffentlichung den Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung und viele Kritiker:innen sprachen übereinstimmend vom „Debüt des Jahres“. Kaiser-Mühlecker zeichnet darin ein Panorama von Menschen, die den Fährnissen und Unwägbarkeiten des Daseins trotzen – oder darin untergehen. Die Romanfiguren sind geprägt von ihrer Herkunft und ihrer Vergangenheit, weshalb sie fast vorgezeichnet einer Zukunft entgegensteuern, die keine Lösungen für ihre Probleme und Herausforderungen bereithält – ihr Scheitern scheint vorgezeichnet.

Reinhard Kaiser-Mühlecker erzählt seine Geschichte in einem episch-ruhigen und unaufgeregt-antiquierten Tonfall, weder idyllisch noch dramatisch, aber authentisch und illusionslos. Sprache und Handlung fließen organisch zusammen und evozieren einen unwiderstehlichen Lektüresog. Die Kunst des Autors zeigt sich in der psychologisch geprägten Figurenzeichnung ebenso wie in den präzisen Beobachtungen der Natur und den klaren und doch poetischen Landschaftsbeschreibungen, die das Dunkel der Handlung erhellen. „Die Landschaften sind mir wichtig“, erklärte Kaiser-Mühlecker in einem Interview mit dem ORF, „ich trag sie mit mir herum, sie haben sich eingeschrieben in mich. In Oberösterreich kenne ich mich aus.“

Sein Debütroman spielt in den 1950er Jahren in Oberösterreich. Der Ich-Erzähler Theodor ist ein junger Bauer, der dort mit seinen Eltern lebt, den Hof übernimmt und eine junge Frau aus der Stadt heiratet. „Meine Frau war zu mir gezogen. Sie kam nicht aus der Gegend, sondern von weiter her, und diese Umgebung hier war ihr noch recht neu und unbekannt. Und da, ganz am Anfang, war alles noch so einfach.“ Kaiser-Mühlecker beschreibt die junge Liebe als eine zärtliche und behutsame. Gemeinsame Spaziergänge zum Fluss, Wanderungen über frische, grüne Wiesen – die jung Vermählten wirken glücklich. Doch die Liebesgeschichte, die der Leser erwartet, endet, bevor sie so richtig begonnen hat. Die Unfähigkeit, miteinander zu kommunizieren, Fehlkalkulationen beim Hofausbau, ein sterbenskranker Vater und eine schwermütige Mutter – all das belastet Theodor und die Beziehung der Eheleute und führt zu einer fortschreitenden Entfremdung. Als dann auch noch der Nachbar, zugleich der engste Vertraute von Theodor, Selbstmord begeht, entgleitet dem jungen Bauer die vertraute Welt immer mehr. „Theodor, du musst aufpassen, dass du dich nicht verrennst in deinem Kopf!“, warnt ihn sein Knecht. Doch Theodor zieht sich immer mehr zurück, hüllt sich in Schweigen und schafft es nicht, mit seiner Frau über seine Gefühle und die wirtschaftlichen Zwänge und finanziellen Probleme zu sprechen. Mit einem vom Autor angedeuteten Freitod des Protagonisten endet der Roman. Theodor flüchtet mit einer Schnapsflasche in der Hand an einem kalten Wintertag in den düsteren und dichten Wald.

Oberflächlich betrachtet könnte man die Romane von Reinhard Kaiser-Mühlecker als elegisch-atmosphärische Abgesänge auf das bäuerliche Landleben lesen, würde Autor und Büchern damit aber Unrecht tun. Die Themen seiner Romane – Herkunft und Familie, Dörfer- und Zeitungssterben, Sehnsucht und Verlust, Weggang und Rückkehr, Selbstfindung und Glück, Arbeit und Liebe, Krankheit und Tod – sind universell und nicht an ein Milieu oder an einen Beruf gebunden. Trotzdem spielt auch „Magdalenaberg“, das zweite Buch von Kaiser-Mühlecker, im bäuerlichen Raum. „Da ich ja selbst auch Landwirt bin und die längste Zeit meines Lebens auf dem Land gelebt habe, ist es logisch, dass meine Bücher im ländlichen Raum spielen und sich (auch) dem bäuerlichen Leben widmen.“

Bauernsohn Joseph, ein Mittdreißiger, hat sich in ein Haus am Ortsrand von Hallstatt zurückgezogen, um dort über sein Leben nachzudenken. Über sich und über den Verlust von zwei Menschen, die ihm sehr nahestanden. Bruder Wilhelm, mit dem er aufgewachsen und der bei einem Straßenbahnunfall ums Leben gekommen ist. Und Katharina, eine Journalistin aus Linz; sie war zwei Jahre lang seine Freundin und Geliebte und hat sich wegen seines Phlegmas und seiner Orientierungslosigkeit von ihm getrennt. Die Lektüre dieses Romans verlangt von den Leser:innen Hingabe und Geduld. Es passiert eigentlich nicht allzu viel im Buch. Kaiser-Mühlecker schildert den Alltag des Protagonisten – Holzhacken, Feuermachen, Kochen, Essen, Grübeln – und doch gelingt es ihm, die innere Unruhe und die existenziellen Nöte von Joseph eindringlich und nachvollziehbar zu beschreiben.

ABERGLAUBE UND GENERATIONENFLUCH

Strauchelnde Charaktere, die unter der Last der Herkunft und einer unbewältigten Vergangenheit leiden, stehen im Mittelpunkt der Romane „Roter Flieder“ und „Schwarzer Flieder“. Die im Innviertel angesiedelte Bauernfamilie Goldberger besteht vor allem aus „Schweigern und Verschweigern“. Der alte Goldberger hatte seinen Hof verlassen müssen, da er als NS-Ortsgruppenführer in seinem Heimatdorf ein brutales Regime geführt hatte. Die Partei bot ihm einen Ausweichhof im Rosental an. Die Schatten der unbewältigten Vergangenheit belasten die nachfolgenden Generationen und der Fluch, dass man „bis ins siebte Glied“ für die Sünden der Väter büßt, lässt einen nachgerade fanatischen Aberglauben in der Familie der Goldbergers entstehen.

Der 1945 aus dem Krieg heimgekehrte Ferdinand übernimmt in „Roter Flieder“ den Hof vom alten Goldberger und versucht, in der dörflichen Welt Fuß zu fassen. Er investiert, modernisiert, baut aus und es fließen bald Gewinne. Glück und Zufriedenheit findet er aber nicht. Seine Söhne Thomas und Paul sind sehr verschieden – ersterer erbt den Hof und Paul verlässt den Hof, studiert und wandert nach unheilvollen Jahren mit Alkoholexzessen, unglücklichen Beziehungen und einer von ihm verschuldeten Feuersbrunst als Prediger nach Bolivien aus.

Innerhalb der Familie Goldberger herrscht weiterhin Sprachlosigkeit – einzig der Rückzug in die Natur sorgt temporär für Glücksgefühle und inneren Frieden. So überrascht einen als Leser die Erkenntnis von Ferdinand auch nicht: „Es gibt viele Paradiese, von denen man sich verabschieden muss. Ob es vielleicht die Kindheit ist oder ob es Menschen sind oder Bekanntschaften. Das ist wahrscheinlich die Lektion: Dass nix bleibt.“

Die Geschichte der Goldberger-Dynastie greift Reinhard Kaiser-Mühlecker auch im folgenden Roman „Schwarzer Flieder“ wieder auf und schreibt sie fort. Ferdinand ist der letzte Vertreter der Bauerndynastie und die Bürde dieser Familie scheint auch für ihn eine zu schwere Last zu sein. Kurzfristig kann er sich zwar vom Einfluss der Goldbergers befreien – er geht nach Wien und erhält nach seinem Studium an der Bodenkultur einen Job im Landwirtschaftsministerium, macht dort Karriere und trifft seine Jugendliebe Susanne wieder. Die beiden wollen heiraten und ins Rosental zurückziehen. Das erhoffte Liebes- und Lebensglück erweist sich aber als kurzzeitige Illusion, weil Susanne sich das Leben nimmt.

Ferdinand flüchtet daraufhin nach Bolivien, wo er sich auf die Spuren seines Vaters begibt und im Begriff ist, sich dort ein neues Leben aufzubauen. Als aber der Hof seiner Familie in der Heimat zu zerfallen droht – Onkel Thomas hat seinen Neffen Leonhard erschlagen und den Hof wirtschaftlich an den Rand des Ruins geführt –, kehrt er heim und beginnt, mit all den Lügen und dem Verschweigen der Vergangenheit aufzuräumen. Er verkauft alles, was über die Generationen seiner Meinung nach zu Unrecht dem Hof zugekommen ist, bis nur noch ein ganz kleiner Flecken übrigbleibt – jener, mit dem einst der erste Goldberger begann. Ferdinand bringt Haus und Hof, und schließlich auch sich selbst, zu einem Ende. Mit beeindruckender Konsequenz. Schließlich befällt selbst den widerstandsfähigen Flieder eine schwarze Kruste und er geht ein.

Kaiser-Mühlecker gelingt es auf eindrucksvolle Weise und überaus atmosphärisch, die schicksalshaften und verhängnisvollen Familiengeschichten miteinander zu verknüpfen und mit fast alttestamentarischer Grundierung und ebensolchem sprachlichen Duktus eine sich über Generationen erstreckende Familiensaga zu erzählen.

VOM WEGGEHEN UND HEIMKEHREN

In fast jedem seiner Romane spürt Reinhard Kaiser-Mühlecker der Frage nach, was es für die Menschen bedeutet, wegzugehen (von Orten, die Menschen als ihre Heimat empfinden) und heimzukehren (an Orte, die einmal Heimat waren) – und was für jene, die geblieben sind. Der folgende Roman „Fremde Seele, dunkler Wald“ (der Romantitel bezieht sich auf einen Satz von Iwan Turgenjew) ist die Geschichte von zwei Brüdern, die ihrer Herkunft, ihren Schwächen und letztlich der vorgefundenen Welt zu entkommen versuchen.

Kaiser-Mühlecker erzählt die Geschichte der in eine Bauernfamilie hineingeborenen Brüder abwechselnd aus der jeweiligen Perspektive eines der Brüder. Alexander, der ältere der beiden, will Priester werden. Er bricht seine Ausbildung zum Priester aber ab und landet als Soldat im Auslandseinsatz für das Heer im Kosovo. Ein anschließendes Beamtendasein im Ministerium endet durch eine Affäre mit der Frau eines Vorgesetzten. Alexander wird zum Eigenbrötler mit seltsamen Interessen und Leidenschaften. Sein Bruder Jakob ist ein melancholischer Charakter, der das Bauerndasein auf dem elterlichen Hof mit angemessener Freude und Leidenschaft betreibt, ehe ihn der Selbstmord seines Freundes Markus und die erfolglosen Geschäftsideen und Bodenspekulationen seines Vaters aus der Bahn werfen. Wie stimmig der Autor die Biografien der zwei ungleichen Brüder miteinander verschränkt und wie geschickt er in diesem Roman zwischen Ruhe- und Spannungsmomenten – idyllische Landschaftsbeschreibungen und das zerrissene Innenleben seiner Romanfiguren stehen gleichwertig nebeneinander – changiert, ist große Kunst.

Der Roman „Enteignung“ ist eines jener selten gewordenen Bücher, die eine bedrückend schwere Geschichte erzählen, die aber trotzdem das Verständnis für die Menschen und die Liebe zum Leben fördern. Eines jener Bücher, nach deren Lektüre wir über die Welt und die Menschen ein klein wenig besser Bescheid zu wissen meinen. Jan, der Ich-Erzähler, kehrt in das Dorf seiner Kindheit und Jugend zurück und zieht in das Haus seiner verstorbenen Tante. Die Jahre davor war er als Journalist in der ganzen Welt unterwegs gewesen. Jetzt schreibt er Glossen und Kolumnen für das kriselnde Lokalblatt, fliegt mit dem Kleinflugzeug – das Fliegen ist seine Leidenschaft – über die Gegend und blickt auf die von Neubauten und Gewerbegebieten zersiedelte Landschaft. Der Bauer Flor, ein Bekannter aus Kindheits- und Jugendzeiten, hat mit riesigen rot lackierten Holzlatten das Wort „Enteignet“ auf einen Hügel gepflanzt, als trotziges Manifest des Widerstands. An diesem Ort sollen Windräder errichtet werden. Jan fühlt sich in seiner alten Heimat fremd, stolpert fast teilnahmslos in Affären mit der unverheirateten Lehrerin Ines, die sich aber auch mit dem Bauern Flor trifft, und mit Flors Frau Hemma. „Wie oft schon hatte ich darüber gestaunt, wie tief Menschen empfinden können; das war eine Fähigkeit, die mir abging, was ich aber nie wirklich bedauert hatte: Auch das Bedauern war schließlich eine Fähigkeit.“

Kaiser-Mühlecker gelingt es auf subtile Weise, unterschiedliche Themen wie den Kampf des Bauern Flor gegen Enteignung und finanzielle Schieflagen, die Krise und den schleichenden Niedergang des Print-Journalismus und das komplizierte und selten gelingende Liebes- und Beziehungsleben seiner Romanprotagonisten miteinander zu verknüpfen. Er beschreibt nachvollziehbar, wie sich Menschen in Zwangssituationen verhalten und behaupten, wie sie gegen die Unwägbarkeiten des Lebens ankämpfen und ob und wie sie bereit sind, Verantwortung zu übernehmen und Lebensentwürfe zu überdenken und zu verändern. „Ich sah dem Wasser zu, wie es kam und ging und verspürte so etwas wie eine Sehnsucht nach etwas Ganzem in meinem Leben oder danach, dass mein Leben ein Ganzes sei. Nach einer Weile verflüchtigte sich diese Empfindung und mir kam es nur folgerichtig vor, denn es gab nichts Ganzes.“ Am Ende des Romans verlässt Jan den Ort seiner Kindheit wieder und macht sich auf: „Ich wollte, so früh als möglich, am nächsten Tag fahren. Wie hatte Parker gesagt? In Berlin war immer was los.“

LIEBE, LEBENSGLÜCK UND EXISTENZIELLE VERLORENHEIT

Jakob, der Ich-Erzähler in Kaiser-Mühleckers Roman „Wilderer“, bewirtschaftet den elterlichen Hof in Oberösterreich und sucht eine Frau. Drei Generationen wohnen unter einem Dach – doch jeder lebt für sich, einzig gegessen wird gemeinsam, „das war aber Gewohnheit, nichts weiter“. Jakob hat am liebsten seine Ruhe, trinkt abends auf dem Balkon noch ein paar Bier und lauscht dem Lärm der nahen Autobahn. So verwundert es nicht, dass sein Fazit für sein Bauerndasein wenig optimistisch klingt: „Als Bauer bleibt einem doch eigentlich nur der Suff oder der Strick.“ Immer wieder fragt er sich, was aus ihm geworden wäre, wenn er in ein anderes Leben hineingeboren worden wäre. Die Sehnsucht nach Aufbruch und Freiheit und die Suche nach Liebe und Lebensglück werden stets von einer existenziellen Verlorenheit und der stillen, in ihm brodelnden Wut überlagert. Und so blickt man als Leserin, als Leser dieses Romans immer wieder in bedrohliche Abgründe eines Menschen.

Jakobs Suche nach einer Frau beschränkt sich auf die Internetplattform Tinder und ist nicht von Erfolg gekrönt. Doch alles scheint sich zu ändern, als eines Tages Katja, eine Künstlerin aus der Stadt, als Stipendiatin in den Ort kommt. Katja stellt sich das Leben als Landwirt aufregend vor. „Aufregend? Die hatten doch alle keine Ahnung. Zugleich fühlte er sich geschmeichelt. Immerhin wusste er, dass in der Gesellschaft Bauern nicht viel galten, und niemand wollte zu tun haben mit ihnen, daran hatte auch das ganze Gerede im Radio in letzter Zeit über die Versorgungssicherheit und die Wichtigkeit des Bodens und diese Dinge nicht viel ändern können.“ Jakob und Katja verlieben sich und Katja unterstützt ihn dabei, den Hof ökologisch umzugestalten.

Kurzzeitig scheint etwas wie Liebes- und Lebensglück für Jakob erreichbar zu sein. Der Hof blüht auf und expandiert als Bio-Hofladen und das junge Paar bekommt zusammen einen Sohn. Doch immer wieder schlägt bei Jakob eine bestimmte Form der Lebensfremdheit und existenziellen Verlorenheit durch und die Leser:innen ahnen, dass das Liebes- und Familienglück nur ein trügerisches ist: „Vor langer Zeit, am Ende der Kindheit, mit zwölf oder dreizehn, war etwas über ihn gekommen, das ihn nie mehr verlassen hatte seither, das Gefühl, aus dem Dasein verbannt worden zu sein, aber nicht ins Jenseits oder ins Nichts, sondern wie ins Abseits, in dem er aber nicht wirklich weiterleben durfte. Am Fenster des Daseins: Dort saß er und wartete.“

Im Verlauf der Jahre entsteht bei Jakob eine tief sitzende Unzufriedenheit, die sich durch Gefühlsarmut und Aggression im Alltag zu erkennen gibt. Er selbst nennt es eine innere „Naturgewalt“, die sich immer öfter seiner Kontrolle entzieht. So tötet er im Affekt seine zwei Hunde, weil sie gewildert haben. Das Glück wie auch die Beziehung zu Katja bleiben sehr fragil und brüchig – bis Katja eines Tages nach einer Auseinandersetzung zu ihm sagt, er „wisse gar nicht, was Liebe ist.“ Und „vielleicht wusste er es wirklich nicht; vielleicht lag das irgendwie in der Familie.“ „Wilderer“ ist ein moderner Bauern- und Heimatroman, der in einem ruhig-mäandernden Erzählfluss vom Wandel des Landlebens erzählt, die Unwägbarkeiten des Lebens und die Untiefen der Seele schildert und zugleich eine ungeheure Wucht und subversive Bedrohlichkeit vermittelt.

Für seinen im Vorjahr veröffentlichten Roman „Brennende Felder“ erhielt Kaiser-Mühlecker den Österreichischen Buchpreis und mit Luisa Fischer steht erstmals eine Frau im Mittelpunkt eines seiner Romane. Auch diese Romanfigur ist stark geprägt von ihrer Herkunft und ihrer Vorgeschichte und sie trägt sehr viel Anerzogenes, Gesehenes, Gehörtes und Erlebtes mit sich. Sie stellt sich die Frage, ob sie sich von ihrer Vorgeschichte lossagen kann, ob sie auch in einer fremden, veränderten Welt, die sich weit von ihrer Herkunft entfernt hat, ein neues Leben und ein neues Glück finden kann.

Als sie erfährt, dass Bob nicht ihr leiblicher Vater ist, merkt sie, dass sie für ihren Stiefvater nicht nur Tochter-Gefühle entwickelt. Sobald sie volljährig ist, verlässt sie ihre Familie, reist rastlos von Stadt zu Stadt, wechselt ihre Partner ebenso häufig wie ihre Wohnorte, bekommt zwei Kinder, zu denen sie bald Distanz hält, und die dann bei ihren Vätern in Dänemark und Schweden leben, ehe Luisa sich in Hamburg niederlässt. Dort trifft sie ihren Stiefvater wieder und verliebt sich in ihn. Die beiden setzen sich über Konventionen und Moralvorstellungen hinweg, beginnen eine Beziehung, kehren in die österreichische Provinz zurück und beziehen eine Villa am Ortsrand.

Ihre Vorgeschichte, die familiären Bande, alte Traumata und neue Kränkungen lassen das unkonventionelle Paar aber nicht zur Ruhe kommen. Robert beziehungsweise Bob dockt wieder an sein früheres Leben an, begeht am laufenden Band Einbrüche und kommt unter unklaren Umständen ums Leben. Luisa kämpft gegen ihre Unzufriedenheit, Rastlosigkeit und Zerrissenheit an und glaubt, Glück und Frieden zu finden, indem sie das Leben, das sie lebt und gelebt hat, zum Mittelpunkt der Welt macht. Sie geht mit Ferdinand, einem Bauern aus der Nachbarschaft, eine Beziehung ein, obwohl sie ihn zunächst verdächtigt hatte, Bob getötet zu haben. Und sie beschließt, Schriftstellerin zu werden und sich als Schreibende neu zu erfinden. Doch auch die Beziehung mit Ferdinand scheitert, sie ist zu rastlos, unzuverlässig und verrückt oder eigenständig, widerborstig und freiheitsliebend – Reinhard Kaiser-Mühlecker lässt das offen und ermöglicht so dem Leser oder der Leserin, dies selbst einzuordnen: „Denn er hatte keine Ahnung. Sie alle hatten keine Ahnung und würden sich noch wundern, wenn ihr Buch erst einmal fertig war (…). Mit der Erfahrung, die sie inzwischen hatte, würde es sich fast von selbst schreiben. Ja, das würde es. Der Gedanke beschwingte sie, er verlieh ihr ein Gefühl von Leichtigkeit, von Erhabenheit.“ Mit diesen Sätzen endet der Roman.

Wie gekonnt Reinhard Kaiser-Mühlecker in diesem Roman unterschiedliche Themen wie modernes Bauerndasein, Landflucht, Feminismus, Sinnsuche, Herkunftsfragen, Moralvorstellungen, Familienmodelle und existenzielle Verlorenheit miteinander verknüpft und zwischen idyllischen Natur- und Landschaftsbeschreibungen, literarischer Kolportage und archaischer Tragödie wechselt, ist eindrucksvoll und beweist einmal mehr, dass er längst zu den singulären und unverwechselbaren Stimmen in der österreichischen Literatur gehört.

Foto: (c) Peter Rigaud