Ruth Klüger - Meine Hartnäckigkeit war mein Glück

Veröffentlicht am 06.01.2021
Christine Hoffer über Ruth Klüger
Bekannt, ja berühmt wurde die Literaturwissenschaftlerin und Schriftstellerin Ruth Klüger mit ihrem Erinnerungsbuch, das 1992 unter dem Titel „weiter leben. Eine Jugend“ erschien.
„Die Geschichte ist erschütternd, entspricht aber nicht den literarischen Standards unseres Hauses“, urteilte davor Siegfried Unseld für den Suhrkamp Verlag über das Manuskript von Ruth Klügers KZ-Erinnerungen. Nach der Aufmerksamkeit und den Lobeshymnen, die das Buch im Literarischen Quartett erfuhr, wurde es zu einem der großen Überraschungserfolge der letzten Jahrzehnte auf dem deutschsprachigen Buchmarkt. Ruth Klüger selbst war genauso überrascht davon.
Geboren wurde sie am 30. Oktober 1931 in Wien. Ihr Vater war Frauenarzt, Zionist, Mitglied einer schlagenden Verbindung und Sozialdemokrat; ihre Mutter Tochter eines ebenso wohlhabenden wie pedantischen Fabrikdirektors. Diese brachte aus ihrer ersten Ehe einen Sohn, Schorschi genannt, mit in die Familie, der den Holocaust nicht überlebte.
Ihre Heimatstadt Wien erlebte Ruth Klüger während der ersten elf Lebensjahre als „freudlos“, „kinderfeindlich“ und „judenkinderfeindlich“; ihr wurde erstmals das Ausgegrenztsein bewusst: „Juden und Hunde waren allerorten unerwünscht.“ 1938, als Österreich dem Deutschen Reich „angeschlossen“ wurde, sah sich der Vater zur Flucht nach Frankreich gezwungen. Warum er seine Tochter und seine Frau nicht mitnahm, sollte Ruth Klüger als quälende Frage ihr Leben lang begleiten. Seine Spur endet schließlich im Vernichtungslager Auschwitz.
Vier Jahre später wurde Ruth Klüger zusammen mit ihrer Mutter nach Theresienstadt deportiert, dem „Stall, der zum Schlachthof gehörte“, zu Auschwitz. Dass beide das Vernichtungslager und die Hölle Auschwitz überlebten, verdankte sich einem Zufall – der Möglichkeit zur Flucht bei der Verlegung im Februar 1945 –, den sie selbst „einen unbegreiflichen Gnadenakt“ nennt. Fast fünfzig Jahre später entschließt sie sich, ein Buch über ihre verlorene Kindheit und Jugend zu verfassen, das schonungslos und in beklemmender Weise die erfahrenen und erlebten Demütigungen, Grausamkeiten, Entrechtungen und Vernichtungen protokolliert. Ruth Klüger will gehört werden und sucht die Auseinandersetzung, „denn die Folter verlässt den Gefolterten nicht, niemals, das ganze Leben lang nicht“.
„Erschütternd“ sind nicht nur die konkreten Erlebnisse eines jüdischen Wiener Mädchens, das nach dem „Anschluss“ Österreichs Entrechtung und Verfolgung erfährt, 1942 im Alter von 12 Jahren mit der Mutter ins Konzentrationslager verschleppt und bis zur Flucht kurz vor Kriegsende Auschwitz und ein Außenlager des KZ Groß-Rosen überlebt. Unvergesslich ist sehr vieles davon, allem voran die Geschichte der Schillerschen Balladen als Krücke, Angst und Qual der stundenlangen Appelle zu überleben.
Und aufhorchen ließ vor allem der hohe Reflexionsgrad und auch der Bruch mit Tabus und einer verkorkst „romantisierenden“ Vorstellung von „Lagergemeinschaft“. Auf die Frage eines Journalisten, ob es nicht doch so war, dass die Menschen in der Extremsituation zusammenhalten mussten, antwortete Ruth Klüger: „Wenn die Leute es schwerer haben, werden sie nicht besser.“ Und als der Reporter nachhakte, dass man aber doch gern daran glauben möchte, konterte sie: „Ich möchte es eigentlich nicht glauben. Ich möchte lieber glauben, dass es einen Zweck hat, den Leuten das Leben leichter zu machen. Es stärkt den Charakter, wenn man nicht hungert, schlaflos und überfordert ist.“ Das rückt jene sentimentale Verfälschungen zurecht, die letztlich noch die vielen tatsächlich gelebten Solidaritätsakte als eine „natürliche“ Reaktion inmitten des Terrors abwerten, wie Evelyne Polt-Heinzl einmal konzedierte.
Dass sie Theresienstadt auch „geliebt“ hat, verdankt sie unter anderem der Begegnung mit dem Rabbiner Leo Baeck, der den drangsalierten Kindern die Schöpfungsgeschichte der Welt erzählte und ihnen Ablenkung von Not und Elend verschaffte. Das meiste im Leben sei Zufall, war sie überzeugt, auch das Überleben, damals in der Selektion im KZ, als sie auf jene Frau traf, die ihr riet, sich als drei Jahre älter auszugeben. Die Gleichaltrigen im Lager, sie kannte sie gut, wurden alle ermordet. Bis zuletzt wird sie die Gesichter dieser Kinder vor Augen haben. "Ich fühle mich nicht schuldig", sagte sie in einem Interview, "aber es ist ein metaphysisches Gefühl, als hätte ich überhaupt nicht überlebt."
1945 schickt die SS Häftlinge auf einen Todesmarsch vom Arbeitslager Christianstadt nach Bergen-Belsen. Ruth Klüger und ihrer Mutter gelingt die Flucht. Sie können sich bis nach Straubing in Bayern durchschlagen, wo sie von der US-Armee in Empfang genommen werden. Mutter und Tochter sind frei. Ihren Vater und ihren Halbbruder sieht Ruth nie wieder. "Ich kann nicht verzeihen, dass mein Bruder in der Ukraine erschossen wurde und dass mein Vater – weiß Gott wo, wahrscheinlich in Litauen – umgekommen ist", sagt Ruth Klüger im Interview.
In Straubing macht Klüger das Notabitur und beginnt ein Studium an der Philosophisch-Theologischen Hochschule in Regensburg. Unmittelbar vor ihrer Ausreise nach Amerika begegnete ihr im Hörsaal der Universität Martin Walser, mit dem sie eine tiefe Freundschaft schloss und der bis zum Erscheinen von „Tod eines Kritikers“ im Jahr 2002 ihre Verbindung zur deutschsprachigen Welt war. Die Freundschaft zerbrach an der Gestaltung der Figur des Kritikers als jüdisches Scheusal nach klassischem Muster. Ruth Klüger fühlte sich von dieser Art der Darstellung betroffen, gekränkt, beleidigt und verzieh ihm dieses Buch nicht, bedient es doch in primitiver Weise die Klischees der Judenverachtung. In „unterwegs verloren“, der Fortsetzung ihres Lebensrückblicks, dokumentiert sie dieses Zerwürfnis.
Es hält sie auch nicht lange in Deutschland – für sie ist es ein für Juden "verbotenes Land". Nach knapp zwei Jahren emigriert sie schließlich mit ihrer Mutter in die USA.
In New York studiert sie zunächst Bibliothekswissenschaften und Anglistik, nach dem dortigen Abschluss nochmal Germanistik an der University of California in Berkeley. "Ich wollte was werden. Ich wollte unabhängig sein", sagt Ruth Klüger in einem Interview. In Amerika lernte sie Tom Angress kennen, einen aus Berlin geflohenen, elf Jahre älteren, angesehenen Historiker, der wie sie „das Dunkel jener Jahre“ erlebt hatte und mit dem sie hoffte, die Trostlosigkeiten überwinden zu können; als Basis für eine lebenslängliche Beziehung war dies zu wenig, fühlte sie sich doch an seiner Seite einsamer als vorher oder nachher: „Ich war neun Jahre lang verheiratet und am Ende der Ehe kam es mir vor, als falle ich aus dem Gefrierfach des Küchenkühlschranks heraus, um endlich aufzutauen.“ Sie zog es vor, aus dem Kreis der „Fakultätsfamilien“ ausgestoßen zu werden, statt in der Rolle eines Anhängsels oder einer „Hausangestellten des Professors“ zu verbleiben. Nach der Trennung von ihrem Mann begann sie als alleinerziehende Mutter zweier Söhne wieder zu studieren, verdiente ihren Unterhalt als fahrende Bibliothekarin und schrieb Gedichte, „um das Gleichgewicht wiederherzustellen“:
„Ich sprech dich an, als hättst du widersprochen, /
Und spreiz die Hände über Sarg und Erde, /
Und sag dir, daß ich weiterreden werde.“
Ihr steiniger, von Benachteiligungen, Diskreditierungen und Herabsetzungen gepflasterter Weg zur und als Literaturwissenschaftlerin in einer weitgehend von Männern dominierten Universitätswelt lässt sich in ihrer Autobiografie nachlesen; auch wie sie den verschiedenen Spielarten des amerikanischen Antisemitismus ausgesetzt war, Anfeindungen über sich ergehen lassen musste: „Jede Diskriminierung schnitt mir ins eigene Fleisch.“ Ihr gegenüber wurden gehässige Vorwürfe erhoben, „weil ich offen zur Schau trüge, was die Nazis mir angetan hätten“, nämlich ihre KZ-Nummer. Sie stellte sich den Gewalttätigkeiten, die ihr als Jüdin und als Frau begegneten, mutig entgegen und erwehrte sich der infamen Angriffe öffentlich: „Ich bin über das normale Maß beleidigt worden und möchte das mit einem kämpferischen Einsatz klarstellen, nicht nur zahm zu Protokoll geben.“
1967 schrieb sie ihre Dissertation über das barocke Epigramm bei Blake Spahr, obgleich sie lieber bei Heinz Politzer über Lessing promoviert hätte, der ihr aber eine akademische Laufbahn als „Frau Dilettantin“ nicht zutraute. Über die Universität von Cleveland, wo sie die Anfänge der Frauenbewegung erlebte, und die Princeton University kam sie nach Irvine, wo sie an der California University als Ordinaria für Germanistik lehrte und jahrelang die amerikanische Literaturzeitschrift „German Quarterly“ herausgab. Ihre literarische und wissenschaftliche Arbeiten weisen eine enorme Bandbreite auf: Sie reichen vom Barock bis zur Gegenwartsliteratur, von Lessing über Kleist bis Heine, von Kästner zu Thomas Mann. Sie befasst sich mit den Zusammenhängen von Dichtung und Geschichte, der literarischen Darstellung des Holocaust, dem Bild der Juden in der Literatur. Mitte der 1970er Jahre wendet sie sich dann verstärkt feministischen Themen zu.
Obgleich sie an der Universität deutsche Literatur lehrt, publiziert Klüger lange Zeit nur in Englisch. Erst Ende der 1980er Jahre, als sie eine Gastprofessur in Göttingen übernimmt, wagt sie, sich ihrer Muttersprache wieder anzunähern. Auf einem internationalen Germanistenkongress 1985 in Göttingen hielt sie einen Vortrag über jüdische Gestalten in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts, um die Tradition des Antisemitismus aufzudecken, der selbst bei renommierten Dichtern zu finden war. In Göttingen wurde nicht nur die verschüttete Europäerin wieder lebendig, sondern es entwickelte sich eine Beziehung zu diesem Ort, „die man […] eine späte Liebe nennen kann“. Aber auch hier war sie antisemitischen Ausfällen und offen zur Schau getragener Frauenverachtung ausgesetzt. In der sogenannten „Schmierfink-Affäre“ zog eine feministisch angehauchte Passage in einem ihrer Essays nicht nur die Wut eines Göttinger Wissenschaftlers auf sich, sondern sie musste sich sogar vorwerfen lassen, dass die Art, wie sie schreibe, die von Schmierfinken sei – ein in der Nazizeit auf jüdische Publizisten angewandter Ausdruck. Trotzdem nahm sie eine ihr angebotene halbjährliche Gastprofessur in Göttingen an und schrieb da ihr Buch „weiter leben“, das der Wallstein Verlag 1992 veröffentlichte.
Seither ist sie als Vortragende und als Zeitzeugin gefragt und wird mit Ehrungen bedacht. Von den zahlreichen Auszeichnungen lässt sie sich in ihrer Haltung nicht beirren, unbeugsam ehrlich sich selbst und anderen gegenüber zu sein und, wenn nötig, in „unerschütterlicher Undankbarkeit“ zu verharren. Neben ihren Erinnerungsbüchern sollten auf keinen Fall ihre ungewöhnlich brillanten Essays und germanistischen Studien vergessen oder vernachlässigt werden („Gelesene Wirklichkeit“, 2006 und „Gemalte Fensterscheiben“, 2007, über Lyrik). In ihnen präsentiert Ruth Klüger ihren eigenwilligen, aus Erfahrungen gespeisten Blick auf die Literatur und vermittelt anschaulich und lebendig ihre Lesart poetischer Texte. Für sie, die sich als Unbehauste empfindet, bietet allenfalls die Literatur eine Heimat.
Bereits im Konzentrationslager halfen ihr die auswendig gelernten Gedichte eine Art Gegenwelt zum Grauen aufzubauen und das Rettende erahnen zu lassen, gemäß den berühmten Versen aus Hölderlins „Patmos“, einem ihrer Lieblingsgedichte: „Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch.“ Seither gilt ihre besondere Liebe der Lyrik, sei es, dass sie eigene Gedichte verfasst oder fremde deutet. Diese Interpretationen besitzen eine provozierende Kraft, laden zum Mit- und Weiterlesen ein und faszinieren durch ihre scharfsinnige Argumentation. Viele dieser Kommentare finden sich in der „Frankfurter Anthologie“.
Ruth Klüger besitzt die Courage, wider den Strich zu lesen. Dass ein weiblicher Blick auf die Werke männlicher Schriftsteller, darunter Goethe, Kleist, Stifter, Schnitzler und Kästner, manches Verdeckte erhellt und über Stereotypisierungen in deren Texten aufklärt, zeigt sie in dem Band „Frauen lesen anders“ (1996). Dass Frauen anders lesen (und schreiben), liege, so Klüger, daran, dass ihr kulturelles Erbe, ihre Schaffensbedingungen und Denkstrukturen anders als die der Männer seien – ein anderes Leben bedinge eben auch ein anderes Lesen: „Der Gott eines engagierten Lesens ist der Eros. Da überschneidet und scheidet sich männlich und weiblich und wird es, auch bei fortschreitender Gleichheit der Geschlechter tun. Da liegen die Unterschiede, die bleiben, wenn wir die unnötigen Unterschiede in der Erziehung der Geschlechter überwunden haben, was indessen noch lange dauern wird. Inzwischen müssen wir die Unterschiede besser kennenlernen, um ihnen in unserer Ästhetik gerecht zu werden.“ Der namensgebende Essay dieser Sammlung ist Programm: In elf Aufsätzen untersucht Ruth Klüger aus weiblichem Blickwinkel Goethe und Grimmelshausen, Kleist und Kästner, Stifter, Schnitzler und Erich Hackl. Außerdem geht es ihr um das Frauenbild in der Unterhaltungsliteratur und die Schaffensbedingungen von Autorinnen. Die deutsche Literatur wird so in ein neues Licht gerückt.
In „Frauen schreiben anders“ (2010) geht Ruth Klüger der Frage nach, ob Frauen auch anders schreiben. Nein, lautet ihr Resümee, doch sie werfen einen „Blick aufs Leben durch anders geschliffene Gläser“. Sie nimmt zeitübergreifend nur Werke solcher Autorinnen unter die Lupe, die sie schätzt und ihren Leserinnen ausdrücklich empfehlen möchte: Herta Müller etwa, Nadine Gordimer, J. K. Rowling, Margaret Atwood oder Doris Dörrie, um nur einige zu nennen.
Über die Schwierigkeiten, der Shoa auf angemessene Weise zu gedenken, schrieb sie ausführlich im zweiten Teil der Autobiografie, "unterwegs verloren". Nie blieb sie im Subjektiven stecken, sondern abstrahierte aufs Ganze, schenkte den Lesern ihren differenzierten Blick auf komplexe Themen. Die Autobiografie wurde so zum hochpolitischen Text.
Wien blieb ihr bis zuletzt ein verhasster Sehnsuchtsort. "Wiens Wunde, die ich bin, und meine Wunde, die Wien ist, sind unheilbar", schrieb sie. Dass die Stadt Wien 100.000 Exemplare von "weiter leben" gratis verteilen ließ, war ihr im Jahr 2008 eine große Genugtuung, doch zu präsent sei der Wiener Antisemitismus noch heute, meinte sie. Ihr Gedicht "Heldenplatz" (im Gedichtband "Zerreißproben") meint Österreichs Tätergeschichte: "Gegen die guten Sitten / verstößt das Gedenken. / Ich bin im Hause des Henkers geboren. / Naturgemäß kehr ich wieder. / In krummen Verstecken / such ich den Strick. / Mir blieb eine Faser davon im Genick. / Meine Hartnäckigkeit war mein Glück."
Am 6. Oktober 2020 ist Ruth Klüger gestorben.
Foto: (c) Wallstein Verlag