Sandoval, Tony - 1000 Stürme

Sandoval, Tony - 1000 Stürme

Veröffentlicht am 05.10.2023

Graphic Novel um eine eigenwillige Einzelgängerin im gefährlichen Übergang zwischen Jugend und Erwachsenendasein.

„Mein Name ist Lisa, und ich sammle kleine Knochen und seltsam geformte Kieselsteine.“ Mit diesem Satz lernen wir die blasse Protagonistin von „1000 Stürme“ kennen. Wenig überraschend ähnelt sie anderen Hauptfiguren aus Sandovals düsterem, doch betörenden Erzähluniversum. Sie ist eine eigenwillige Einzelgängerin, im gefährlichen Übergang zwischen Jugend und Erwachsenendasein. In Lisas Leben – gezeichnet vom Verlust der archetypischen Mutter, dem mysteriösen abwesenden Vater und den Feindseligkeiten anderer Jugendlicher ringsum, die sie gar als Hexe jagen wollen – stehen ganz widersprüchliche Dinge wie selbstverständlich nebeneinander: Sie verheimlicht ihr kindliches Puppenspiel, wundert sich über die Anziehung zwischen den Geschlechtern und gestaltet sich mit ihren morbid anmutenden Funden eine Sammlung, die auch als eine Form von magischer (Selbst-)Versicherung und werthaltigem System wirkt. Zurecht fragt sich Lisa – auch in Bezug auf Liebe – stellvertretend für uns: „Warum ist das so kompliziert?“

Die strenge Patentante wiederum drängt sie „Warum bist Du kein gewöhnliches Mädchen?“, will sie zu Reinlichkeit, Verantwortung und Sommerjob erziehen. Doch die Verträumte verweigert sich zumeist, setzt eskapistische Naturerfahrungen und private Mythologie gegen den tristen Alltag. Ihr Spielen – und dieser bildstarke Comic fragt nicht zuletzt wie beiläufig nach Wesen und Wirklichkeit von Spielen – kreist um Ausbruch, Bedeutung und Selbstbestimmung. Sandoval erzählt also, wie auch schon mit „Wasserschlangen“ (in der Lisa in einer Schlüsselszene als Nebenfigur zu sehen ist) oder „Doomboy“, ein klassisches Setting auf eine im besten Sinne nicht-klassische Weise: Der Sommer am Meer, die coming-of-age-Story und das Nebeneinander von Schrecken und Wunder münden bei ihm in eine Begegnung mit einer düsteren Anderswelt, mit sehr realen Ungeheuern und der Erkenntnis, dass ein happy end niemals garantiert ist.

Wenn also die selbsternannten „Hexenjäger“ Lisa zusetzen, sich Familiengeschichten verselbständigen und schließlich als handfeste Gewalt manifestieren, schlägt auch bei der zeichnerischen Darstellung Lisas das Schöne ins Hässliche um: In „1000 Stürme“ muss man selbst zum Ungeheuer werden, um sich Ungeheuern entgegenstellen zu können. Passagenweise irritiert Sandoval, wenn er erneut leitmotivisch Knochen, Zähne und Wasser inszeniert, wenn er das Unheimliche, Tragische und Erotische miteinander verquickt. Noch stärker als frühere Arbeiten scheint Sandoval in diesem Comic an der Entfaltung einer Atmosphäre interessiert, an der streckenweise sehr heftig geratenen Ausgestaltung emotionaler Innenwelten und der Besetzung äußerer, überpersönlicher Räume. Ganz im Sinne eines phänomenologischen Verständnisses ebendieser Atmosphäre dominieren Intensität und Immersion nicht nur die inhaltliche Ausgestaltung des Werks, die titelgebenden Stürme übertragen sich auch auf die formale Umsetzung: Stilistisch zugleich expressiv und filigran löst Sandoval gemäldehaft klassische Panelstrukturen auf, lässt die Textzeilen dem Wellengang desallgegenwärtigen Meeres folgen.

Die Erzählung rund um Demarkationen und Übergänge, seien sie nun zwischen Orten oder (Lebens-)Zeiten, finden ein Gegenstück in Sandovals Ästhetik der Liminalität, einer unausgesetzten Bewegung des Fließens, des Formverlusts und einer nicht zuletzt körperlichen Verwandlung. Lisas Credo „Ich muss mein Schicksal entdecken“ führt sie an die vermeintlichen Grenzen des Aushaltbaren – und darüber hinaus.
Thomas Ballhausen

Sandoval, Tony - 1000 Stürme
Ludwigsburg: Cross Cult 2023. 144 S. - fest geb. : € 25,70 ISBN 978-3-96658-885-0

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