Saša Stanišić - Geschichtenerzähler und Sprachartist

Saša Stanišić - Geschichtenerzähler und Sprachartist

Veröffentlicht am 31.10.2022

Von Heimo Mürzl.

Der bosnisch-deutsche Schriftsteller Saša Stanišić beeindruckt in seinen Büchern mit Fabulierlust, Phantasiereichtum, Humor, Sprachartistik und empathischer Erinnerungskraft.

„Ich komme aus einem Kulturkreis, in dem Geschichtenerzählen so etwas wie eine Charaktereigenschaft ist.“ (Saša Stanišić)

Saša Stanišić wurde 1978 als Sohn eines serbischen Vaters (Betriebswirt) und einer bosniakischen Mutter (Politikprofessorin) geboren. Nach der Besetzung Visegrads durch bosnisch-serbische Truppen im Bosnienkrieg flüchtete die Familie zu einem Onkel nach Heidelberg. Sašas Mutter fand Arbeit in einer Wäscherei, während sein Vater am Bau arbeitete. Die Eltern wanderten 1998 in die USA aus. Saša Stanišić blieb in Deutschland, studierte Slawistik und Deutsch als Fremdsprache an der Universität Heidelberg und in Leipzig und promovierte mit einer Arbeit über Wolf Haas. 2005 wurde die literarische Öffentlichkeit das erste Mal auf ihn aufmerksam, als er beim Ingeborg-Bachmann-Preis mit seiner autobiographisch gefärbten Erzählung „Was wir im Keller spielen …“ den Kelag-Publikumspreis erhielt. 2006 wurde er Stadtschreiber von Graz und veröffentlichte seinen ersten Roman: „Wie der Soldat das Grammofon repariert“. Sein Debütroman begeisterte Kritik und Leserschaft und wurde in 31 Sprachen übersetzt.

IDENTITÄT UND INDIVIDUALITÄT

Saša Stanišić macht kein Hehl daraus, dass die autobiographisch geprägten Themen Herkunft und (neue) Heimat, (Bürger-)Krieg und Flucht, Familie und Kindheit, Identität und Individualität seine Literatur maßgeblich beeinflussen. Mit und in seinen Büchern versucht er herauszufinden, was es heißt, ein Leben zu führen, was einem am Leben erhält und wie einem ein „gutes“ Leben gelingen kann. Sein kunstvoller und zugleich verspielter Umgang mit der deutschen Sprache, sein stets melancholisch gefärbter Humor und seine geistsprühende und phantasievolle Erzählfreude machen ihn zu einer unverwechselbaren Stimme der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur.

Schon als kleiner Bub lebt Aleksandar, der Held und Ich-Erzähler des Debütromans von Saša Stanišić oft in seiner Phantasiewelt und wird deshalb auch als größter Fähigkeitenzauberer von Visegrad bezeichnet. Sein Versuch, seinen verstorbenen Opa Slavko mit seiner Magie wieder zum Leben zu erwecken, bleibt vergeblich. Seine Lust und Freude am Träumen, Fabulieren und Geschichtenerfinden erhält er sich aber bis ins Erwachsenenalter. Aleksandar wächst in Visegrad wohlbehütet im Schutz einer weitverzweigten Familie auf. Zwischen feucht-fröhlichen Familienfesten, Amokläufen betrogener Ehemänner, abenteuerlichen Anglererlebnissen an der Drina und den auf- und anregenden Geschichten von Opa Slavko. Mit dem Tod des von ihm innig geliebten Großvaters, einem glühenden Tito-Verehrer, beginnt sich alles zu verändern. Als dann der Krieg mit seinem grausamen Alltag über Visegrad hereinbricht, kann Aleksandar mit seinen Eltern nicht mehr in Visegrad bleiben. Die Mutter ist muslimischer Herkunft und dadurch von den ethnischen Säuberungen durch die Serben bedroht. Die Familie emigriert nach Heidelberg, da dort ein Onkel der Familie wohnt. In seiner neuen – lange Zeit sehr fremden – Heimat erweist sich Aleksandars Fabulierlust als (über)lebenswichtig.

Die kindliche Erzählperspektive, mit der märchenhaften, fast ein wenig entrückten Sprache des Heranwachsenden und die mit lebhafter Erzählfreude und überbordender Phantasie geschilderten Geschichten und Anekdoten bilden den besonderen Reiz dieses Romans. Stanišić wählte die Form des Schelmenromans und stattete ihn mit einem ebenso umfangreichen wie originellen Figurenensemble aus. Zusammen mit den aus autobiographischen Erfahrungen und phantasievoll-märchenhaften Erinnerungen gespeisten Geschichten ergibt das große europäische Literatur, die unsere Gegenwart mit all ihren Widersprüchlichkeiten und berührenden Momenten widerspiegelt. Saša Stanišićs Roman hat Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im Blick und schildert anhand des Lebens einer multiethnischen Großfamilie im kleinen Visegrad, wie Nationalismus und religiöser Fanatismus über den Vielvölkerstaat Jugoslawien hereinbrechen und zum Einsturz bringen. Stanisic lässt seinen Ich-Erzähler mit einem märchenhaften Erzählduktus aus einer Schlüsselloch-Perspektive erzählen. Dieser Kunstgriff ermöglicht es ihm, dem Roman trotz aller geschilderten Grausamkeiten und Schrecklichkeiten einen lebensbejahend-heiteren und letztlich optimistischen Ton zu erhalten. Stanišićs Roman vermag es, Bürgerkrieg, Flucht und Exil so zu beschreiben, dass man sich als Leser gleichzeitig informiert, berührt und unterhalten fühlt. Und um eine Spur klüger. Szenen von großer Zartheit und voll warmherziger Empathie werden von Episoden von verstörender Grausamkeit und irritierender Skurrilität konterkariert.

Wie tragikomisch und mitunter grotesk das Treiben der Menschen sein kann, schildert Stanišić anhand eines ganz außergewöhnlichen Fußballspiels, auf das sich die kriegführenden Serben und Bosnier in einer Kampfpause einigen. Sie verlassen dafür ihre Stellungen und die beschriebene Szene steigert sich zu einem Moment absurden Theaters, als der Ball – es ist der einzige Ball, den die Soldaten noch besitzen und so mitten im Krieg quasi unersetzlich – in ein angrenzendes Minenfeld geschossen wird und ein Spieler das Spielgerät sichern soll. Dafür erhält er eine kugelsichere Weste gereicht, die aber nicht für ihn, sondern für den Ball gedacht ist. Das stimmig inszenierte und gekonnte Oszillieren zwischen der märchenhaft-magischen Erzählperspektive des Kindes Aleksandar und der distanzierteren Sicht des inzwischen in Deutschland lebenden jungen Mannes fasziniert bei der Lektüre dieses Buches. Als der erwachsene Aleksandar in die Stadt seiner Kindheit zurückkehrt, hat er sich der Nachkriegsrealität Bosniens zu stellen.Saša Stanišić führt in seinem Debütroman unterschiedliche Kriegs- und Fluchtbiografien zusammen und plädiert für ein Zusammenleben trotz aller Unterschiede und mit all seinen Widersprüchen. Und dafür, dass Menschlichkeit und Nächstenliebe mehr wird, als ein leicht über die Lippen kommendes Bekenntnis.

ERINNERUNGEN, ALTE GESCHICHTEN UND TRADIERTE MYTHEN

Saša Stanišićs zweiter Roman „Vor dem Fest“ spielt in der verschlafen wirkenden ostdeutschen Provinz und erzählt die Geschichte des fiktiven Dorfes Fürstenfelde in der Uckermark. Dort bereiten sich die Dorfbewohner wie jedes Jahr auf das große Volksfest vor. Und davon erzählt der Roman mit viel Witz, Warmherzigkeit und Phantasiereichtum. Stanisic gelingt es Heimatroman, Provinzsatire und Tragikomödie stimmig und lesenswert miteinander zu verknüpfen und das Dorf als eigenständiges, kleines Universum in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen zu rücken. Stanišić selbst beschreibt das so: „Tatsächlich war es auch ein Experiment für mich. Ein Versuch, nicht nur das Dorf zum Leben zu erwecken, sondern Menschen, die ein bisschen auf die Seite der Gesellschaft gestellt werden, in den Mittelpunkt zu rücken. Es war für mich wichtig, ein abgeschlossenes, kleines Universum zu schaffen. (….) Es ist schon eine Sehnsucht, die mitschwingt. Diese Liebe zum Kleinstuniversum, die steckt in mir als Person sehr stark drin.“

Saša Stanišić sieht sich selbst als klassischer (Geschichten)Erzähler. Die Realität und die Fakten dienen ihm als Fundament für sein von Fabulierlust und Sprachartistik geprägtes Werk. Der gewitzte Geschichtenerfinder und Geschichtenerzähler spielt gekonnt mit Figuren und Motiven aus der märchenhaften Sagen- und geheimnisvollen Mythenwelt, lässt auf artifizielle Art altertümliche Sprache und Archivfunde in seinen Roman einfließen und verknüpft so auf fast spielerische Weise Erzählgegenwart mit einer sehr fernen Vergangenheit. Im Gegensatz zum Ich-Erzähler Aleksandar in seinem Debütroman „Wie der Soldat das Grammofon repariert“ ist es in diesem Roman ein „Wir“, das uns die Geschichte(n) erzählt – ein vielstimmiger Chor unterschiedlicher Dorfbewohner. Dieser literarische Kunstgriff ist ein kluger Schachzug vonSaša Stanišić und gewährt ihm viel künstlerischen Spielraum für sein virtuoses Handwerk zwischen ausgeklügelter Sprachartistik, großer Fabulierfreude und kluger Recherche. Die kollektive Erzählstimme, das „Wir“, sorgt nicht nur im Dorfleben für Zusammenhalt und Ausgleich, sondern auch in diesem kunstvollen Dorfroman mit hoher Humordichte. Für manche der Romanfiguren gab es reale Vorbilder: „Einige werden sich erkennen, andere sind total ausgedacht. Ich habe immer nach interessanten Details gesucht und habe sie passend zu meinen Dorfbewohnern verändert.“ Soweit Saša Stanišić anlässlich der Veröffentlichung seines Romans.

Das originelle Figurenensemble reicht vom Halbstarken Lada, der so gerufen wird, weil er als Dreizehnjähriger mit dem Lada seines Großvaters nach Dänemark gefahren ist über Frau Kranz, die greise Malerin des Dorfes, die schon jeden Dorfbewohner auf Leinwand gebannt hat und die trübsinnige Dorfhistorikerin mit dem passenden Namen Schwermuth bis hin zum ehemaligen Oberst Wilfried Schramm, der beinahe an der Frage verzweifelt, ob er Zigaretten holen oder sich eine Kugel in den Kopf jagen soll. Der Autor Stanisic nimmt die Provinz und ihre Bewohner ernst. Nichtsdestotrotz sitzt ihm der Schalk im Nacken und er präsentiert die Dorfbewohner mit all ihren Schwächen und Eigenheiten mit viel Humor und Ironie. Die oft nur zwei bis drei Seiten umfassenden Geschichten bieten Platz für unterschiedlichste Charaktere und Schicksale und fügen sich im Zusammenspiel zu einem lebendigen Bild des fiktiven Dorfes Fürstenfelde zusammen. Dem Erzähler-Wir legt der Autor Stanišić folgende Sätze in den Mund: “Es wird gehen. Es ist immer irgendwie gegangen. Pest und Krieg, Seuche und Hungersnot, Leben und Sterben haben wir überlebt. Irgendwie wird es gehen.“ Stanisic findet stets den richtigen Ton – seine Bücher haben trotz der ernsten Themen und der dunklen Grundierung eine inspirierend-heitere und lebensbejahende Färbung.

KAFKAESKE REISEN

Zwei Jahre nachdem Stanišić mit seinem Roman „Vor dem Fest“ Kritiker und Leser begeistert und den renommierten Preis der Leipziger Buchmesse erhalten hatte, veröffentlichte er einen Band mit zwölf Erzählungen. Die mit fast einhundert Seiten längste und dem Erzählband seinen Titel gebende Geschichte knüpft an seinen erfolgreichen Dorfroman an und bedient sich erneut einer kollektiven Erzählstimme. Der „Fallensteller“ ist ein geheimnisvoller Fremder, der ausschließlich in Reimen spricht und sich selbst als „Problemlöser“ bezeichnet. Auch der Autor Stanišić präsentiert sich in diesem Buch als versierter Fallensteller. Seine Erzählideen und seine Sprache dienen ihm als verführerisch-lockende Köder. Er versteht es meisterhaft, Menschen zu durchschauen und zu beschreiben, (literarische) Fährten zu legen, mit Pointen zu arbeiten und mit Worten und Geschichten zu verführen. Seine Erzählungen spielen mit Erwartungshaltungen, variieren gekonnt Ton und Färbung und verknüpfen auf geschickte Art und Weise Fakten und Fiktion, Realismus und Phantasie. Die besonders gelungenen Geschichten lassen Stanisics persönliche Vorliebe für Franz Kafka, E.T.A.Hoffmann und Adelbert von Chamisso erkennen.

Drei Geschichten widmen sich der Innen- und Außenwelt des Brauerei-Justiziars Georg Horvath. Eine Geschäftsreise nach Brasilien gerät immer mehr zu einer kafkaesken Irrfahrt mit skurrilen Erlebnissen und aberwitzigen Erfahrungen. Schließlich findet sich der Justiziar nach dem Genuss von allzu viel Riesling in einem grotesken Traum wieder und strandet in Bukarest. Die kürzeste Geschichte des Erzählbandes berichtet davon, dass ein Mann im bosnischen Gebirge im Schnee stecken bleibt. Männer in Trainingsanzügen nehmen sich seiner an. Es sind Hirten, wie sich später herausstellt. Eine mit EU-Geldern gebaute Sprudelfabrik ist ihr Rückzugsort und Lebensmittelpunkt. „Die Fabrik“ steht beispielgebend dafür, wie innovativ und virtuos Stanišić mit Erzählformen und tradierten Gattungen spielt und ihnen neues Leben einhaucht.

HERKUNFT UND HEIMAT

„Herkunft sind die süß-bitteren Zufälle, die uns hierhin oder dorthin getragen haben. Sie ist Zugehörigkeit, zu der man nichts beigesteuert hat“ (Saša Stanišić)

Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass alle Bücher von Saša Stanišić die Frage nach Herkunft und Identität im Blick haben, sie ironisch und humoristisch drehen und wenden und sich im verführerischen Stanišić-Sound auf Spurensuche begeben. Die große Kunst des Autors Stanišić besteht darin, seine Fragen in lebendige Erinnerungen und wunderbare Geschichten zu verwandeln. „Herkunft“ ist Saša Stanišićs vierte Buchveröffentlichung und knüpft mit ihrem Figurenensemble und ihrer unverwechselbaren Mischung aus autobiographischem Erzählen & lustvollem Fabulieren und authentischer Familiengeschichte & artifizieller Kunstprosa an seinen Debütroman „Wie der Soldat das Grammofon repariert“ an.

Stanišić erzählt wieder von seiner Kindheit in Visegrad, von der Zeit bevor Nationalismus, religiöser Fanatismus und Bürgerkrieg seine Familie zwingen, nach Deutschland zu fliehen. Er erzählt aber auch von seiner Teenager-Zeit in Deutschland und von der Freundschaft mit den Burschen vom Parkplatz der Aral-Tankstelle in Heidelberg. Und vom Gefühl, ein Fremder zu sein und immer wieder daran erinnert zu werden: „Wir wurden auch oft daran erinnert, dass man sich in Deutschland an „die Regeln“ zu halten habe. Als seien Regeln anderswo völlig unbekannt. „Do reddä märr Daidsch“. (…) Wer sich an Regeln hielt, auch an solche, die gar keine waren, dem könnte man, so unser Eindruck, das Migrantendasein verzeihen. Und mit jeder Regel, an die man uns erinnerte, erinnerte man uns auch daran: Ihr seid fremd hier.“ Dabei ist jedes Zuhause zufällig. Oder wie es Stanisic beschreibt: „Jedes Zuhause ist ein Zufälliges. Dort wirst du geboren, hierhin vertrieben, da drüben vermachst du deine Niere der Wissenschaft. Glück hat, wer den Zufall beeinflussen kann.“

Sicherheit, Halt und Geborgenheit findet der Ex-Flüchtling Stanišić in der Sprache, in der Literatur, im fabulierfreudigen Geschichtenerzählen. Dabei erweist er sich als formal überaus versierter Autor, der gekonnt zwischen Wirklichkeit und Fiktion changiert. Weil Erinnerung ja nie chronologisch erfolgt, springt Stanisic geschickt zwischen Orten, Personen und Lebensphasen hin und her, sammelt Erinnerungsfragmente, fügt sie erzählerisch zusammen und ergänzt sie phantasievoll zu einem Ganzen. Der Roman wird so zum Echoraum, in dem das Schicksal nachhallt, das so gewaltig und unvorhersehbar mit den Menschen spielt. Auf der Suche nach seiner Herkunft trifft Stanišić seine betagte und schon ein wenig demente Großmutter, die noch in Bosnien lebt, und führt mit ihr lange Gespräche. Über gemeinsame Erinnerungen, aber auch über die Erinnerungslücken und vermeintlichen Wahrheiten, lernen sich Oma und Enkel noch einmal (neu) kennen.

Entsprechend der Vielschichtigkeit und Offenheit des Begriffs Herkunft gestaltet Stanišić auch seinen Roman völlig offen. Er bietet dem Leser die Möglichkeit selbst zu entscheiden, wie er die Geschichte weiterlesen, ergänzen und weitererzählen will. Mit diesem Kunstgriff verweist Stanišić darauf, dass es zwar viele Fragen, aber fast nie eindeutige Antworten und den einzigen und unverrückbar richtigen Weg gibt. Wer Romane zu den immer zeitgemäßen und zugleich generationsübergreifenden Themen Herkunft, Kindheit, Identität, Krieg, Flucht, Migration und Integration sucht, sollte zu den Büchern von Saša Stanišić greifen. Ihre Lektüre ist kurzweilig und informativ, regt zum (Weiter)Denken an und weitet das Herz.

Foto: © Katja Sämann