Scholl, Sabine - Die zweite Haut
Veröffentlicht am 15.12.2025
Aufwachsen mit Textilien und Wolle als Ersatz für mütterliche Wärme.
„Ich erzähle von meinem Aufwachsen mit Textilien und Wolle als Ersatz für mütterliche Wärme.“ Mit diesen Worten fasst die Schriftstellerin Sabine Scholl, 1959 in Oberösterreich geboren, die Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend zusammen, die nicht nur von der Armut ihrer Eltern geprägt war, sondern auch von der sozialen Scham, die sich wie eine zweite Haut über sie gelegt hat und die sie bis heute nicht ganz abgestreift hat.
Der Vater ist Eisenbahner, die Mutter Hausfrau, das Eigenheim wird unter großen Entbehrungen und auf Schulden gebaut. Der Garten, betreut von der Mutter, versorgt die Familie mit Obst und Gemüse. Gekauft wird nur das Notwendigste, schon gar keine Kleidung, denn die Mutter ist eine geschickte Näherin, die mit billigen Stoffen und Wolle dafür sorgt, dass alle gut angezogen sind und die Familie nach außen ein ordentliches Bild abgibt. Sie selbst zieht sich in ihrer Anspruchslosigkeit immer mehr zurück und leidet an der Enge des dörflichen Lebens.
Als die Tochter auf Anraten der Volksschullehrerin ins Gymnasium kommt, ist das für die Eltern wie ein erster Verrat an ihrer Herkunft, und für die Tochter ein Eintauchen in eine andere soziale Schicht, der sie kaum gewachsen ist. Später finanziert sie sich ihr Studium in Wien selbst, kleidet sich auf Flohmärkten ein und hat gelernt, Konsum zu verachten, damit nicht auffällt, wie wenig sie besitzt.
Sabine Scholls Erinnerungen werden von Fotos begleitet, die jedoch nicht abgedruckt, sondern in eingerückten Textpassagen beschrieben werden. Schreiben, das Zusammenfügen von Buchstaben, Wörtern und Sätzen zu einem inhaltlichen Ganzen, ist für die Erzählerin vergleichbar mit dem Nähen ihrer Mutter. Erst nach deren Tod erfährt die Tochter, dass ihre weiblichen Vorfahren – sowohl Großmutter als auch Mutter – sexuelle Gewalt erleben mussten, aber nie darüber reden konnten.
Die Erinnerungen an die Kindheit verknüpft Sabine Scholl immer wieder mit ihrem Leben als Erwachsene, in dem sie sich häufig nicht gegen das Anspruchsdenken der privilegierteren Sprösslinge aus gutem Hause durchsetzen konnte. Sie meidet Besuche im Elternhaus, in dem sie keine Liebe erfahren hat, lässt sich aber auch selbst nicht dauerhaft an einem Ort nieder, sondern lebt in Portugal, Japan, den USA, in Berlin und jetzt wieder in Wien. Am Ende ihrer Erinnerungen räumt sie ein, dass ihr der soziale Aufstieg mit abgeschlossenem Doktoratsstudium und trotz vielfacher Auszeichnungen als Schriftstellerin nicht gelungen ist: „Ich bin nicht aufgestiegen, sondern habe mich fortbewegt.“
Ida Dehmer
Scholl, Sabine - Die zweite Haut
Roman. Berlin: Weissbooks 2025. 237 S. fest geb. : € 25,95 (DR) ISBN 978-3-86337-231-6

