Seethaler, Robert - Das Café ohne Namen

Seethaler, Robert - Das Café ohne Namen

Veröffentlicht am 12.07.2023

Ein einladendes Café in der Wiener Leopoldstadt, im Jahr 1966.

Robert Seethalers neuer Roman spielt in der Wiener Leopoldstadt, beginnt im Jahr 1966 und geht bis hinein in die ersten siebziger Jahre. Hauptfigur ist Robert Simon, ein junger Mann, der früh von der Schule abgeht und als Gelegenheitsarbeiter auf dem Karmelitermarkt arbeitet. Er ist zufrieden mit seinem Leben, doch zwanzig Jahre nach Ende des Krieges hat sich die Stadt aus ihren Trümmern erhoben. Überall wächst das Neue, und auch Simon lässt sich mitreißen. So pachtet er direkt neben dem Markt eine Gastwirtschaft und eröffnet sein eigenes Café. Das Angebot ist überschaubar, und es ist eigentlich gar kein richtiges Café, sondern eher ein Gasthaus, das neben Kaffee, Tee und Himbeersoda vor allem Alkohol und Schmalzbrote anbietet. Die Menschen aus dem Viertel kommen, und sie bringen ihre Geschichten mit, erzählen jeder aus seiner Perspektive von der Sehnsucht, vom Verlust, vom unverhofften Glück.

Der als Kriegswaise in einem Heim aufgewachsene Simon ist „zu verwirrt, um richtig traurig zu sein“. Noch als Erwachsener ist er von einer grundlegender Verunsicherung gezeichnet: „Ich meine, wer bin ich denn schon?“ Mit fast schon argloser Menschenliebe empfängt er Schichtarbeiter, Markthändler und Fabrikmädchen, deren innere Monologe sich in Einschüben immer wieder unter die Erzählung mischen: Der Fleischermeister, der nicht mehr weiß, wie er die Familie unterhalten soll, oder René Wurm, der Ringer vom Heumarkt, der es mit Gegnern wie dem „georgischen Bären“ zu tun hat, wenn er sich nicht gerade als Kartenverkäufer im Prater verdingt, der Fischhändler Wessely oder Blaha, dem ein Granatsplitter das Auge ausgeschlagen hat, der aus Russland stammende Künstler Mischa Troganjew oder die arbeitslose Mila, Simons rechte Hand, sie alle finden sich in diesem Café.

Dieser autobiografisch inspirierte schöne Roman um ein Café, das Treff- und für Simon als Betreiber Lebensmittelpunkt ist, an dem Menschen zusammenfinden und ihre kleinen Träume und Wünsche teilen, ist, wie man es von Robert Seethaler kennt, ganz unaufgeregt, ruhig erzählt. Effektheischerei ist ihm fremd. Wieder schafft er es, obwohl die Geschichte eher ereignislos dahinzieht, den/die Leser:in mit seiner besonderen Aufmerksamkeit für die Details des Lebens in seinen Bann zu ziehen. Diese „schönen kleinen Beiläufigkeiten“ und der tröstende Blick des Erzählers bewirken also, dass man bei ihm überaus gern vom „Scheitern als zentraler Erfahrung des Lebens“ liest.
Simon Berger

Seethaler, Robert - Das Café ohne Namen
Roman. Berlin: Claassen 2023. 288 S. - fest geb. : € 25,50 (DR) ISBN 978-3-546-10032-8

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