Sibylle Lewitscharoff - Wie schafft man es, ein guter Mensch zu sein?

Veröffentlicht am 18.03.2022
Christine Hoffer über die Sprachkünstlerin
„Ich bin ordentlich, bin womöglich schon ordentlich auf die Welt gekommen. Deshalb war die Buchhaltung, die ich zwanzig Jahre lang betrieb, eine durchaus angemessene Tätigkeit. Erste literarische Versuche zeigten sich darin wie ein geheimes Laster: in Briefen an säumige Zahler, Briefe, die die Firmenleitung nie zu sehen bekam. Wie bedroht man einen Schuldner hart, tut’s aber elegant und gibt zugleich die Versicherung ab, wenn er jetzt sofort zahle, sei was seine Börse leide dem Ehrvermögen wieder gutgeschrieben? Obwohl ich in meinen Büchern gerne vom Jenseits erzähle und dann wortreich vor mich hin wurmisiere, glaube ich, dass dafür das Wort Zahltag eigentlich genügt … Seit mehreren Jahren beschäftigt mich ein Wunsch, der soviel Aussicht auf Verwirklichung hat wie der Wunsch, Indianer zu werden. Wie schafft man es, ein guter Mensch zu sein? Gut in schlichtem Sinne: gutmütig, weise, freigiebig, heiter“, meinte Sibylle Lewitscharoff in ihrer Vorstellungsrede bei der Aufnahme in die Deutsche Akademie der Sprache.
Geboren wurde Sibylle Lewitscharoff am 16. April 1954 in Stuttgart. Sie studierte von 1973 bis 1982 Religionswissenschaften und Soziologie in Berlin und lebte 1977 für ein Jahr in Buenes Aires und 1984 in Paris. 1978 kehrte sie nach Berlin zurück, um vorerst einmal als Buchhalterin in einer Werbeagentur zu arbeiten. 1998 gewann sie den Ingeborg-Bachmann-Preis mit einem Auszug aus „Pong“ (1998), ihrem zweiten Prosawerk (ihr erstes erschien bereits 1994 von der literarischen Öffentlichkeit nahezu unbemerkt unter dem Titel „36 Gerechte“). Darin erwies sich Sibylle Lewitscharoff schon als eine sehr eigene Stimme, die ausgefeiltes Sprachbewusstsein mit fast barocker Sprachspielerei ebenso vermischt wie fantastische Erzählelemente und einen Hang zu skurrilen Figuren. „Pong“ ist die Geschichte eines an der Welt irre Gewordenen, der ehrwürdiger Nachfahr genannt werden kann von Schreber, Wölffli u.a. und doch zugleich ein Visionär ist, der träumt, die Welt nach seinem Willen neu zu schöpfen. Doch Lewitscharoff interessiert nicht die in Kunst verwandelte Darstellung eines paranoiden Falls. Vielmehr erhebt sie eben jene Logik des Nicht-Sinns (wie sie als Dynamik des assoziativ arbeitenden Unbewussten dem Wahnsinn zugeschrieben wird) zur künstlerischen Methode, um in absurden Bildern von einer Welt zu berichten, die gleichermaßen aus den Fugen geraten ist. Denn alle sprachliche und formale Spielerei in „Pong“ (etwa die Worterfindungen und jähen Perspektivwechsel) sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier eine gelernte Religionswissenschaftlerin mit ihrer Figur Pong einen genauen Blick hinter den Spiegel wirft. Nicht umsonst ist Lewis Carroll, neben Edward Lear, hierbei einer ihrer literarischen Bezugspunkte. Und es zeichnet sich in „Pong“ schon ein Thema ab, das charakteristisch ist für die Verquickung von Komik und Tragik, die all ihre Figuren auszeichnet. Beinahe alle Figuren in ihrem literarischen Werk sind Zwangsneurotiker, an denen Lewitscharoff die fragile Grenze auslotet, an der sich das Bedürfnis nach Ordnung wandelt in Wahn, in den die fast zwanghafte Suche ihrer Figuren nach dem Glück immer wieder umzukippen droht.
Auch „Der höfliche Harald“ (1999), ein der englischen Nonsense-Tradition verschriebenes Kinderbuch auch für Erwachsene (das Lewitscharoff, wie schon „36 Gerechte“, mit eigenen Illustrationen versehen hat), erzählt von dieser Kippfigur, wenn der kleine Harald in die Zumutungen der Erwachsenenwelt eingeweiht wird und dafür Abenteuer zu bestehen hat in einem Land namens Oblivion, in dem all jene Gestalten leben, die von den Geschichten vergessen worden sind und nun auf ihre Vollendung warten.
Montgomery
Von solch (fast märchenhafter) Fantastik, die tatsächlich im Reich der Erfindung angesiedelt ist, verabschiedet sich auf sehr überraschende Weise Lewitscharoffs drittes Prosawerk „Montgomery“ (2003). Nun ist sie, die in einem Interview „eine gewisse Scheu, Menschen in Fleisch und Blut darzustellen“ gestand, in die Welt der handfesten Realität gewechselt und erzählt eine sehr aktuelle Geschichte aus dem Hier und Jetzt.
Schauplatz ist Rom, die heilige Stadt, vor deren (nicht allein touristischen verkommener) Kulisse Lewitscharoff eine kriminalistische Recherche entspannt um die sieben letzten Tage im Leben des Filmregisseurs Montgomery Cassini-Stahl, ein Zwangsneurotiker auch er. Er dreht in Rom einen Film über das Schicksal von Josef Süß Oppenheimer, der als „Jud Süß“ zu trauriger Berühmtheit aufgestiegen ist durch den gleichnamigen Propagandafilm der NS. Tatsächlich holt die Vergangenheit auch Cassini (wie Oppenheimer in Stuttgart geboren) in mehrfacher Hinsicht ein, denn er erinnert sich an die Verstrickung nicht nur seiner Familie, sondern überhaupt der Mächtigen im Land (Kirche wie Staat) in das dunkle Kapitel Nationalsozialismus. Zudem steht er selbst, wie einst der biblische Kain, im Verdacht, seinen jüngeren Bruder ermordet zu haben. Letztlich aber erzählt Lewitscharoff hier von einem so einsamen wie herrschsüchtigen Menschen, der Macht über die Welt zu erlangen sucht, da er nichts als geliebt werden will, ein nicht ohne gebotene Ironie gestalteter Schmerzensmann.
Mit „Consummatus“ (2006) legte Sibylle Lewitscharoff den fahrigen Monolog des reichlich 55-jährigen Ich-Erzählers, des Deutschlehrers Ralph Zimmermann, genannt Ralphi, am Samstag, dem 3. April 2004 vormittags im Stuttgarter Caféhaus Rösler, vor. Er kreist um tragische Familienereignisse, denn bei zwei Unfällen in Kenia und Frankreich kamen einmal die Eltern Agnes und Erwin sowie andermal die Geliebte Johanna Skrodzki, kurz Joey, ums Leben.
Alles glauben sollte man dem Ich-Erzähler allerdings nicht. Im ersten Kapitel, als er noch nicht die vielen Wodkas intus hat, will er dem naiven Leser seine Jenseitsfahrt anno 2000 mit erfolgreicher Rückkehr glauben machen. Durchgängig konfus ist der Monolog über Gott und die Welt eigentlich nicht. Immerhin relativiert Ralphi gegen Ende seiner Totenklage, als es bei Kaffee nicht geblieben ist, den bildungssprachlichen Titel „Consummatus“ (auf Deutsch: der Vollendete) ein klein wenig: Jesu letztes Wort am Kreuz: Consummatum est – Es ist vollbracht.
Es ist die pathetische Lebensbeichte eines Deutsch- und Geschichtslehrers, Mitte Fünfzig, der sich mit schwäbischer Regelmäßigkeit samstags in den Vollrausch trinkt und dabei immer wieder den Verlauf seines Lebens (und auch den seines eigenen Todes) heraufbeschwört. Und er wird nun immer wieder unterbrochen durch die vorwitzige, manchmal lebensweise Kommentare einer Totengeisterschar, zu der neben der schon zu Lebzeiten fledermäusig-flatterhaften Joey (die der 1988 verunglückten Underground-Ikone Nico nachempfunden ist) etwa auch deren Freunde und Bekannte wie Andy Warhol, der "Doors"-Sänger Jim Morrison und "Factory"-Star Edie Sedgwick gehören. Am Ende des Romans mischt sich der göttliche Logos selbst in die Totenrede ein. Ob der betrunkene Zimmermann sein Delirium oder seine Erleuchtung erlebt, ist nicht mehr zu unterscheiden.
Apostoloff
„Apostoloff“ (2009) ist ein Roadmovie der besonderen Art, eine Autoreise durch das heutige Bulgarien. In einem Daihatsu sitzen drei Personen: der bulgarische Fahrer namens Rumen Apostoloff und zwei deutsche Schwestern, die eine auf dem Beifahrersitz, die andere auf der Rückbank. Eine Position, die ihr sehr behagt, da sie, wie sie selbst sagt, ihr "Gift lieber von hinten einstreut". Und davon hat sie genug. Gift und Galle spuckend lässt sie sich durch das postkommunistische Land chauffieren, dem Heimatland ihres bulgarischen Vaters, der nach dem Zweiten Weltkrieg nach Stuttgart kam, eine deutsche Frau heiratete, sich erfolgreich als Gynäkologe niederließ und schließlich, nach wiederholten Phasen von Depression und Melancholie an einem Strick erhängte, als die Schwestern noch im Kinderalter waren. Charakterlich könnten diese nicht unterschiedlicher sein. Während die eine das Land ihres Vaters mit abwesender, desinteressierter Milde am Seitenfenster des Autos an sich vorbeiziehen lässt, kocht die andere, die auf der Rückbank sitzende Ich-Erzählerin, vor Wut und Zorn nur so über. Mit allen Mitteln, die ihr an Rhetorik und Cholerik zur Verfügung stehen, rechnet sie mit Bulgarien, mit seiner Politik und seiner Architektur, seinen Menschen und seinem Essen ab. Und ebenso mit dem Verhalten ihres Vaters, der sich in ihren Augen feig in den Tod davon stahl.
„Apostoloff“ ist ein schräges Buch. Wie in allen anderen Romanen Lewitscharoffs klingt auch hier eine theologische Bedeutungsebene an. Trotz der Dichte der Bezüge ist „Apostoloff“ leicht und vergnüglich zu lesen. Man muss die Anspielungen auch nicht allesamt dechiffrieren, sondern kann sich dem Rhythmus der assoziativen Schlenkerbewegungen überlassen und die kühnen Überblendungen bewundern. Sibylle Lewitscharoffs arabesker Stil hält den Leser bei der Stange, die satirische Komponente tut ein Übriges. Vermutlich musste sie sich einiges vom Leib schreiben.
Blumenberg
„Blumenberg“ (2011) ist zwar ein Stück Literatur, das den Status der Fiktion beansprucht, darin aber doppelt und dreifach verspiegelt. Einerseits zurrt Lewitscharoff den irdischen Hans Blumenberg, der 1920 geboren und 1996 bei Münster starb, mit den Eckdaten seines Lebens als zeitgeschichtliche Figur fest. Sie streift Lebensunordnung und frühes Leid des katholisch getauften Halbjuden, dessen drei Tanten mütterlicherseits in Theresienstadt umkamen und der noch 1945 im Arbeitslager Zerbst interniert wurde, bevor er auf Betreiben des Fabrikanten Heinrich Dräger freigelassen wurde und bis Kriegsende in dessen Familie Unterschlupf fand.
Andererseits bringt sie ihn in einer Legende zum Schweben, bei der sich realer Kern und künstlerische Ausgestaltung überlagern. Mit Antonello da Messinas Gemälde „Der heilige Hieronymus im Gehäus“ aus dem Jahr 1474 beschreibt sie die neben der von Albrecht Dürer bekannteste Darstellung des Kirchenvaters. Hieronymus verkörperte für Blumenberg das Ideal eines Lebens und Studierens im Verborgenen, dem er auch als zusehends einsiedlerischer Professor nachstrebte. Antonello machte ihn überdies mit einem jener Löwen bekannt, die ihn literarisch, philosophisch und ikonografisch als souveräne, in sich ruhende Wesen beschäftigten: Rechts, im Halbschatten, sieht man das zahme Raubtier, das den Heiligen der Überlieferung zufolge zeitlebens begleitete, nachdem dieser ihm in der Wüste einen Dorn aus der Pfote gezogen hatte. Sibylle Lewitscharoff entführt den Leser nun in ein Problemlöwengelände, das Blumenberg selbst in seinen nachgelassenen Denkbildern „Löwen“ (2001) beackerte, ohne dass er, der das metaphorologische Denken stets gegen die reine Logik des Begriffs verteidigte, zu belastbaren Thesen gekommen wäre. Es ist kein schicksalssatter Künstlerroman, sondern ein Text um die letzten Dinge.
Wie der grandiose Stilist Blumenberg die Literatur und das Fabulieren umarmte, auf deren spezifischer Wahrheit er im Interesse umfassender menschlicher Selbsterkenntnis bestand, umarmt Lewitscharoff mit ihrem Sprachwitz die Philosophie. Gemeinsam ist beiden eine Passion für theologische Fragen.
Mit „Killmousky“ (2014) hat Sibylle Lewitscharoff eine Art Kriminalroman geschrieben. Darum geht es: Kommissar Richard Ellwanger ist vorzeitig aus dem Dienst ausgeschieden, weil er einem Entführer zweier Kinder Gewalt angedroht hat. Als der Kommissar eines Abends fernsieht, steht ein Kater, den er soeben noch in einem Fernsehkrimi gesehen hat, plötzlich in seiner Wohnung.
Der Kommissar, der sich trotz Katers langweilt, bekommt als Privatdetektiv einen Fall in New York, wo eine Millionenerbin vom Balkon fiel, deren Vater nicht an Selbstmord glaubt, sondern daran, dass der Ehemann ein Heiratsschwindler mit eventuell deutscher Herkunft ist. Der Ermittler ermittelt hin und her, aber viel mehr als eine Nacht mit der reizvollen älteren Schwester des Opfers will ihm nicht gelingen. Lewitscharoff spielt auf Raymond Chandler an. Das Buch will ein Kriminalroman sein, aber es ist nur eine Anspielung auf einen Kriminalroman. Die Figuren sind Abziehbilder: der orientierungsarme Ermittler, die treue Seele, der scharfkantige Millionär im Rollstuhl, der kein Wort zu viel sagt, die abgebrühte Schönheit, „reich, verwöhnt, egoistisch“.
Lewitscharoff scheint die Arbeit am Krimi Freude bereitet zu haben. Sie spielt unbefangen mit dem Trivialen, montiert kleine Motive aus den Nachrichten der letzten Jahre in die Handlung, scheut sich nicht vor Zitaten aus Fernsehkrimis und blendet Bilder des Film Noir in ihre Geschichte ein. Man verrät nicht zu viel, wenn man andeutet, dass der Kommissar seinen ersten Job als Privatdetektiv mit Bravour zu Ende bringt.
Der überraschende, auch ein wenig harmlose Genreausflug Lewitscharoffs ist für sie möglicherweise ein willkommenes Luftholen vor dem nächsten größeren literarischen Streich, wie sie in einem Interview meinte: "Ich habe von den Themen her immer gerne ein bisschen was anderes vor mir, und das nächste Buch, das ich schreiben will, das ist für mich eigentlich so die große Herausforderung, das ist nun etwas ganz anderes, das ist wirklich ohne Rücksicht auf Leser, das ist wirklich eine 180 Grad-Wendung, und davor wollte ich aber gerne mal sowas Realistisches einbauen, zur Selbstberuhigung, und auch, um nicht nur auf einer Schiene so weiterzumachen. Weil das nächste ist angesiedelt in einem ganz hohen Raum, bei Dante usw., und ich habe mich davor gefürchtet, so eine Folge zu leisten wie Blumenberg, Dante, ist das nächste dann Homer oder ist es Moses? Das ist lächerlich. Da kommt mir ein schwarzer Kater und ein Herr Ellwanger gelegen ... das ist da das richtige Gegenprogramm dazu."
In ihrem Roman „Das Pfingstwunder“ (2016) erzählt Sibylle Lewitscharoff von der plötzlichen Himmelfahrt von Dante-Forschern. „Ein neues Pfingstwunder brach über uns herein.“ So beschreibt der alternde Professor Gottlieb Elsheimer, was ihm und seinen Kollegen bei einer Tagung über die „Göttliche Komödie“ widerfahren sein muss. Der Doyen der Dante-Forschung erlebte als Zeuge, wie ein Symposium von Romanisten, allesamt Verehrer von Dante Alighieri, in einem ekstatischen Tumult auseinanderging. Über Tage hinweg hat man Dantes Weg durch Hölle und Fegefeuer Canto für Canto goutiert.
Man hat erhebenden Vorträgen gelauscht, geistreich über einen kleinen Hund gescherzt und abends gediegen gespeist. Doch als an Pfingsten 2013 in Rom die Glocken läuten, hält die Philologengemeinde nichts mehr. Die Damen und Herren tanzen plötzlich auf den Tischen; sie kichern und singen, stammeln Halb- und Unverständliches in zahllosen Sprachen und fliegen jauchzend gen Himmel. Um das unbegreifliche Ereignis zu fassen und seiner Verstörung Herr zu werden, lässt der 62-jährige Professor Gottlieb Elsheimer. den ganzen Kongress, Vortrag für Vortrag Revue passieren. Das Geschehen wird nun mit seiner Dante-Leidenschaft in Gang gesetzt, so nebenbei wird das Buch eine wunderbare Einführung und Commedia-Lesebegleitung. Wer sich für Übersetzungsnuancen und Interpretationsmöglichkeiten interessiert, ist damit gut bedient. Lewitscharoff kompiliert sozusagen den derzeitigen Forschungsstand.
Von oben
Der Erzähler in „Von oben“ (2019) ist gestorben, aber doch nicht völlig. Als "Seelenmotte" schwebt er willenlos über dem "Berliner Stadtfladen", irrt umher zwischen Leben und Tod. Viele Erinnerungen sind weg, Namen erloschen, selbst an den eigenen kann er sich nicht erinnern. Durch offene Balkontüren dringt er in Wohnungen ein. Offenbar zieht ihn etwas dorthin, was mit seinem früheren Leben zu tun hat. Er spioniert bei alten Freunden, wo er nicht nur erfreuliche Einblicke erhält, aber auch bei Menschen, die er vermutlich nie gekannt hat. Als bloßer Beobachter, zur Passivität verdammt, schaut er auf die unheilvollen Lebensverstrickungen und das Leiden der Menschen. Und fühlt sich nicht gut dabei.
Es entsteht eine Art Reigen von Verzweifelten, Scheiternden und Geschundenen. Ein junger Mann wird zu Tode geprügelt, ohne dass man erfährt, warum. Ein Mädchen sucht den Tod und springt vom Dach. Ein Paar verbeißt sich im rituell gewordenen Streit. Manche Kapitel tendieren auch zur Komödie: Da verirrt sich der Geist in einen Psycho-Workshop, in dem Frauen ein kollektives "Lachtraining" absolvieren, und in ein riesiges Sado-Maso-Studio, wo es "Frühbucherrabatt" gibt. Auch einen Abstecher in die Wohnung der Bundeskanzlerin unternimmt er; sie liest gerade am Küchentisch Akten. Allmählich lüftet sich die Identität des Ich-Erzählers. Er war zu Lebzeiten Philosophieprofessor an der FU Berlin, seine Kenntnisse hat er nicht im Diesseits zurückgelassen. Ausgiebig plaudert er über Heidegger, Thomas von Aquin, die Kabbala oder Kafka. Sibylle Lewitscharoff gelingt dabei ein humorvoller, pointierter Blick auf unser Leben. Es ist ein anarchisches, exzentrisches, ein verzweifeltes, aber auch hochkomisches Buch.
Abraham trifft Ibrahim
„Abraham trifft Ibrahim“ (2018) ist ein Buch, das Sibylle Lewitscharoff gemeinsam mit ihrem Kollegen Najem Wali geschrieben hat. Darin unternehmen die beiden Streifzüge durch Bibel und Koran, aus denen sie neun Figuren, von Eva über die Jungfrau Maria bis zum Teufel ausgesucht haben und diese aus verschiedenen Perspektiven betrachten. Und die könnten, denkt man zuerst, gar nicht unterschiedlicher sein.
Es ist spannend, den beiden zu folgen, der in Stuttgart protestantisch sozialisierten, studierten Religionswissenschaftlerin Sibylle Lewitscharoff und Najem Wali, in Basra zur Welt gekommen, und 1980 nach Ausbruch des Irak-Kriegs nach Deutschland geflohen. Als unbefangene „Laien“ und freie Künstler können sie das Gespräch über die heiligen Schriften auf eine andere, nämlich literarische Ebene heben. So nehmen sie sich in korrespondierenden Essays neun Hauptfiguren aus Bibel und Koran vor: Eva – Hawwa, Abraham – Ibrahim, Moses – Musa, Lot – Lut, Hiob – Ayyub, Jona – Yunus, Salomo – Sulaiman, Maria – Maryam, Teufel – Schaitan. Die Zugänge der beiden sind verschieden. Als Kind hatte Wali bei seinem Großvater einen schönen, noch nicht politisierten Volksislam kennengelernt, heute steht er als Atheist allen Religionen distanziert gegenüber, bemüht sich aber um Verständigung. Lewitscharoff dagegen ist eine bewusste, also eigenwillige Protestantin. Wali schreibt für Leser, denen der Koran kaum bekannt ist, er zitiert ausführlich und bietet viele Sachinformationen.
Da Lewitscharoff davon ausgeht, dass den Lesern die biblischen Geschichten noch vertraut sind, nimmt sie die biblischen Texte oft nur als Ausgangspunkt für weite kunst- und literaturgeschichtliche Ausflüge. Das Buch enthält brillante Texte, zu denen Sibylle Lewitscharoff sich durch die vorgegebenen Figuren hat verlocken lassen. Man wünscht sich, sie möge noch mehr biblische (und auch andere) Gestalten mit ihrer Sprachkraft und Fantasie zu neuem Leben erwecken.
Foto: (c) Suhrkamp Verlag