Sigrid Nunez - Über das Leben, das Sterben und die Kraft des Erzählens

Sigrid Nunez - Über das Leben, das Sterben und die Kraft des Erzählens

Veröffentlicht am 14.04.2023

Ein Porträt der spätberufenen Autorin. Von Heimo Mürzl. 

„Die Fülle der Nächstenliebe besteht einfach in der Fähigkeit, den Nächsten fragen zu können, welches Leiden quält dich?“ (Simone Weil)

Sigrid Nunez erzählt in ihren Büchern von schmerzlichem Verlust und großer Liebe, von Sehnsucht, Trauer, Trost und inniger Freundschaft und trifft so die Essenz des menschlichen Daseins. Geboren 1951 in New York, ist sie ein Paradebeispiel dafür, dass auch spätberufene Autorinnen großen Erfolg haben können. Ihren ersten Roman veröffentlichte Nunez erst mit Mitte vierzig. Mittlerweile gehört sie zu den profiliertesten und beliebtesten Autorinnen der amerikanischen Gegenwartsliteratur. 2018 erhielt Nunez für den Roman „The Friend“ den National Book Award und seit 2021 ist sie Mitglied der „American Academy Of Arts And Letters“. Auf Deutsch erscheint ihr Prosawerk seit 2020 im Aufbau Verlag.

VERLUST UND VERLETZLICHKEIT

Mit ihrem Roman „Der Freund“ hat Sigrid Nunez quasi über Nacht Berühmtheit erlangt, wurde mehrfach ausgezeichnet und eroberte in zahlreichen Ländern die Buchbestsellerlisten. Dabei ist der Inhalt des Romans schnell erzählt. Die Ich-Erzählerin, eine zurückgezogen in New York lebende Schriftstellerin, bekommt nach dem Freitod ihres besten Freundes dessen Hund vermacht. Apollo, so heißt die schwarz-weiß gefleckte Dänische Dogge. Der riesige, achtzig Kilogramm schwere Hund trauert um sein Herrchen und die tiefe Verbundenheit des ungleichen Paares zu dem Verstorbenen führt sie in ihrer gemeinsamen Trauer zueinander. Zwei einsame und trauernde Wesen, die eine innige Beziehung gegenseitiger Anteilnahme aufbauen. Die beiden Trauernden trösten sich durch die bloße Anwesenheit des anderen: „Was sind wir, Apollo und ich, wenn nicht zwei Einsame, die einander schützen?“ Das Apartment der Ich-Erzählerin ist eigentlich viel zu klein für die riesige Dogge und außerdem sind Hunde in ihrem Mietshaus nicht erlaubt. Sie nimmt den Hund trotzdem in ihre Obhut und der sabbernde und stinkende, aber überaus sanftmütige Hund und die zartfühlende und empathische Schriftstellerin und Dozentin für Creative Writing helfen einander bei der Verarbeitung eines großen Verlusts. Bald schläft die riesige Dogge sogar im Bett der Ich-Erzählerin, die davon berichtet, dass es „ein erstaunlicher Trost ist, wenn sich ein großer warmer Körper an dein Rückgrat drückt.“ In diesem tief berührendem Buch erzählt Sigrid Nunez von schmerzlichem Verlust, großer Liebe, von Sehnsucht, Trauer, Trost und inniger Freundschaft und trifft so die Essenz des menschlichen Daseins.

Der Roman ist aber viel mehr als eine berührend-warmherzige Geschichte einer besonderen Freundschaft. Die Grenzen zwischen Autofiktion, Roman, Essay und Memoire sind fließend und das Buch fasziniert mit seinem Reichtum an Zitaten, literarischen Anspielungen, philosophischen Betrachtungen, literaturkritischen Notizen und pointierten Seitenhieben. Der durchgehend melancholische Ton des Buches fußt auf einer künstlerischen Klarheit und Souveränität, die keine Redundanz toleriert und weder den Verlustschmerz leugnet, noch Pathos und Kitsch zulässt. Der Roman entwickelt eine zurückhaltende und dennoch verführerische Intensität. Sigrid Nunez ist eine exzellente Erzählerin, die den Leser auf fast beiläufige Weise in ihren Bann zieht. Ihre Sprache ist meist ebenso streng wie elegant, überrascht manchmal aber mit irisierend-schönen Momenten. „Es stimmt, dass man nur noch verschwommen sieht, wenn man lange genug heftig geweint hat“, heißt es zu Beginn dieses Romans. „Der Freund“ beeindruckt als feinfühlig-tiefsinniges und zugleich selbstreflektierendes Erinnerungsbuch, das es auf kluge Art versteht, Themen wie Tod, Verlust, Trauer, Verletzlichkeit, Freundschaft, Liebe, Trost und Weiterleben gekonnt auszutarieren und so jegliche Schwere zu nehmen. Nunez´ Ich-Erzählerin beleuchtet auch die Kulturgeschichte der Beziehung von Mensch und Hund. Sie erwähnt wahre Geschichten von Hunden, die ihren Besitzern über deren Tod hinaus treu blieben, wie zum Beispiel der Hund Hachiko, der zehn Jahre lang täglich an einem Bahnhof in Tokio wartete, an dem er zuvor Tag für Tag sein Herrchen abgeholt hatte.

Die vielen literarischen, historischen und popkulturellen Bezüge, die Nunez herstellt, wirken aber niemals überladen und bereichern diesen Roman auf stimmige Art und Weise. Zwischen der Hingezogenheit zu einem Hund und dem vertrauten Zwiegespräch mit einem verstorbenen Freund changierend begeistert dieses Buch als perfekt konzipierte Genremischung. Mit dem Verstorbenen hat die Ich-Erzählerin eine ganz besondere (geistige) Beziehung gepflegt. Als Studentin in New York besuchte sie seine Schreibkurse an der Universität und verfiel wie viele ihrer Kolleginnen dem Charme, dem intellektuellen Esprit und der Attraktivität des geistreichen Dozenten. Den Großteil seiner Produktivität und Energie bezieht der aus seinem promiskuitiven Leben. So einen Mann erwischt MeToo gänzlich unvorbereitet. Nachdem er jahrzehntelang jede seiner Studentinnen mit „Meine Liebe“ angesprochen hatte und körperliche Nähe nie abgelehnt hatte, erreicht ihn ein von allen Studentinnen unterzeichnetes anklagendes Schreiben, das ihm den Boden unter den Füßen wegzieht. Auch das Altern erlebt dieser Mann, inzwischen Professor, als „Kastration in Zeitlupe“. Er gibt nicht nur das Unterrichten auf, sondern nimmt sich später auch das Leben. Der notorische Frauenheld & promiskuitive Womanizer und die bezaubernde und kluge junge Frau bilden kurze Zeit ein überaus attraktives und sehr interessantes Paar. Obwohl die beiden nur ein einmaliges sexuelles Erlebnis verbindet, bleiben die beiden zeitlebens in schriftlichen Kontakt und teilen eine Art sublimierte erotische Verbindung auf intellektueller Ebene. So überrascht es den Leser nicht, wenn es manchmal schutzlos und direkt aus der Ich-Erzählerin herausbricht: „Es ist ganz einfach. Ich vermisse dich. Ich vermisse dich jeden Tag.“

Es ist ein langsames Erinnern in assoziativen Schritten, das den Verstorbenen porträtiert und die besondere Beziehung und Vertrautheit zwischen ihm und der Ich-Erzählerin sichtbar und nachvollziehbar macht. Letztlich ist es aber die ganz besondere Freundschaft zu Apollo, der riesigen Dogge, die der Ich-Erzählerin den Weg zurück ins Leben weist. Die innige Verbindung zwischen Mensch und Hund spendet Trost, gibt Halt und evoziert echte Lebensfreude. Mit wieviel Anmut und Empathie Nunez über die kleinen Dinge des Alltags und die großen Fragen des Menschseins spricht, wie lakonisch und unprätentiös und zugleich tiefgründig und warmherzig sie erzählt, ist große Kunst.

VERGÄNGLICHKEIT UND FÜRSORGE

„Aber ich will nichts mehr über Narzissmus und Entfremdung und die Vergeblichkeit der Beziehungen zwischen den Geschlechtern lesen. Was ist aus Faulkners Vorstellung geworden, dass es die Aufgabe des Schriftstellers ist, die Menschen zuversichtlicher zu machen?“

(Frei)Tod und Freundschaft, Vergänglichkeit und Fürsorge, Liebe und Vergänglichkeit bilden auch im Roman „Was fehlt dir“ wieder die Leitthemen der Literatur von Sigrid Nunez. Im Zentrum des Romans stehen drei namenlose Figuren, deren Lebenswege sich vor einiger Zeit getrennt hatten und die dann auf geheimnisvolle Weise von Sigrid Nunez wieder verknüpft und zusammengeführt werden. Die namenlose Freundin bittet die Ich-Erzählerin um Beistand, weil sie unheilbar an Krebs erkrankt ist. Um selbstbestimmt sterben zu können, hat sich die todkranke Frau die entsprechenden Tabletten besorgt und begibt sich mit der Ich-Erzählerin auf eine letzte Reise.

Die beiden Frauen mieten ein Haus an der Küste Neuenglands, schauen zusammen alte Film-Klassiker, lesen Bücher und diskutieren darüber, gehen einkaufen und kochen und essen zusammen. Die Ich-Erzählerin wir unverhofft zur (Sterbe)Begleiterin und die stille Übereinkunft bringt die beiden Frauen auf unerwartete Weise sehr nahe. Die Autorin führt auf kluge Weise noch eine weitere Bezugsfigur in den Roman ein. Einen berühmten Collegeprofessor und Autor, der mit einem Vortrag über die globalen Krisen und den bevorstehenden Untergang der Menschheit durch die Universitäten tourt. Es handelt sich dabei um den Ex-Mann der Ich-Erzählerin. Um dieses Romanfiguren-Trio und rund um ihre Leitthemen entwickelt Nunez in zahlreichen anekdotischen Abschweifungen, stimmigen Aphorismen, literarischen Anspielungen und Zitaten aus Film und Literatur ihre literarische Abhandlung über das Sterben, die Freundschaft und die Frage, wie Mitgefühl und Fürsorge die Sicht auf unser Leben und dessen Vergänglichkeit verändern kann. Sigrid Nunez beschreibt den Schmerz, der einen ergreift, wenn klar wird: Alles wird einmal enden. Der Originaltitel „What Are You Going Through“ beschreibt diese Thematik noch viel besser. „Ich verspreche, dass es ein so großer Spaß wie nur möglich wird“, ermuntert die krebskranke Freundin die Ich-Erzählerin. Und es gelingt Nunez tatsächlich auf kunstvolle Art, mit sparsamen Vokabular und ohne jedes Pathos ein hohes Maß an Empathie in Worte zu kleiden. Momente der Trauer und des Schmerzes werden von Momenten absurder Komik und skurrilen Witzes abgelöst. Bewegende Momente großer Intimität und inniger Liebe ergänzen den meisterhaften Roman auf stimmige Weise. Das Besondere an diesem Buch ist Tatsache, dass es dem Leser die Möglichkeit bietet, es als Roman oder als philosophischen Essay zu lesen. Und beides mit großem Gewinn.

„Wenn die Leute fragen, warum ich mich so hingezogen fühle zum Thema Tod und Sterblichkeit, dann will ich immer antworten, dass es doch eher so ist, dass die Vergänglichkeit und die Sterblichkeit mich zu sich heranzieht.“ (Sigrid Nunez) „Was fehlt dir“ beeindruckt auch als Buch über zwei starke Frauen in einer (noch immer) von Männern dominierten Welt und wird Seite für Seite zum hoffnungsvoll-warmherzigen Trostbuch über die Kunst zu leben und zu sterben. „Der Krebs kann mir nichts antun, wenn ich mir etwas antue“, erklärt die namenlose Freundin der Ich-Erzählerin einmal und macht sie kurz sprachlos.

Die namenlose Freundin in „Was fehlt dir“ trägt einige Wesenszüge der amerikanischen Autorin und Essayistin Susan Sontag, die 2004 auch einem Krebsleiden erlag. In ihren jungen Jahren war Sigrid Nunez Privatsekretärin und bevorzugte Gesprächspartnerin der intellektuellen Ikone Susan Sontag. Ihre unter dem Buchtitel „Sempre Susan“ veröffentlichten „Erinnerungen an Susan Sontag berichten von jener Zeit, als Nunez als Mittzwanzigerin als Sontags Assistentin in deren Upper West Side-Apartment lebte. „Sempre Susan“, das Buch über ihre Bekanntschaft mit Susan Sontag erschien 2011. Wer sich neben Susan Sontags Werk auch für die Extravaganzen ihres Privatlebens interessiert, sollte dieses Buch lesen. Es bietet intime Einsichten in ein außergewöhnliches Frauenleben.

Geprägt von einer problembeladenen Kindheit – Susan Sontag verliert früh ihren Vater und leidet unter der Lieblosigkeit ihrer alkoholkranken Mutter – wird die Literatur schon sehr früh ihr letzter Zufluchtsort. Ihre gemeinsame Zeit mit Sontag bezeichnet Sigrid Nunez humorvoll als „intellektuell betreutes Wohnen“. Susan Sontag erscheint darin wie eine egozentrische Elfenbeinturmbewohnerin, die nicht kocht, sich von aufgewärmten Dosensuppen ernährt und nach der Devise „Jeden Tag ein Buch“ lebt. Es sind besondere Momente der Nähe, aber auch der Fremdheit, die Nunez in ihren Erinnerungen an Susan Sontag literarisch Revue passieren lässt. Schatten- und Sonnenseiten halten sich die Waage. Nunez beschreibt Sontag als überaus eloquente Frau mit beinahe universaler Gelehrtheit und einem guten Sensorium für gerade aktuelle Themen. Nach der Lektüre dieser gut lesbaren Erinnerungen an Susan Sontag versteht man die enorme Anziehungskraft, die diese außergewöhnliche Intellektuelle und ambivalente Frau ausüben konnte.

WIDERSPRÜCHE UND GEHEIMNISSE

Der schon 1995 im Original erschienene autobiographisch geprägte Debütroman von Sigrid Nunez wurde im Vorjahr (2022) endlich auch ins Deutsche übersetzt. „Eine Feder auf dem Atem Gottes“ besteht aus vier Großkapiteln und Sigrid Nunez verknüpft darin persönliche Erinnerungen auf stimmige Weise mit dem, was sie akribisch recherchiert hat. Nunez tastet sich durch Erinnerungsbilder, nähert sich Geheimnissen und klammert Widersprüche nicht aus. Die Erinnerungen bleiben mitunter bruchstückhaft – trotzdem gelingt es der Autorin sich mit großer Achtsamkeit und Genauigkeit an die „Wahrheit“ heranzutasten. Wie wird man, wer man ist? Der autobiographisch geprägte Roman erzählt vom Heranwachsen in einer New Yorker Sozialbauwohnung in den Fünfzigerjahren, berichtet über Herkunft und Identitätssuche und von der Kommunikationslosigkeit in multiethnischen Familien.

Schon die Tatsache, dass die deutsche Mutter den typisch deutschen Namen Sigrid für die Tochter wählte, der für den chinesisch-panamaischen Vater praktisch unaussprechbar war, war ein Beleg für die schier unüberbrückbare Kluft zwischen den Eltern der Autorin. Sie hatten sich während des Zweiten Weltkriegs in Deutschland kennengelernt und waren nach New York emigriert. Die Familie verbringt ihr Leben in den USA in Sozialbauwohnungen in Armut und dem steten Bemühen der Mutter aus wenig viel zu machen. Nie haben die Eltern die kulturelle Kluft zwischen ihren Welten auch nur ansatzweise zu überbrücken vermocht und nie sind die beiden so wirklich in Amerika angekommen. Was es auch für ihre Tochter Sigrid sehr schwer macht. „Ich wäre gern ein typisch amerikanisches Mädchen mit einem Namen wie Sue Brown gewesen“, schreibt Nunez in ihrem Roman.

Doch Sigrids Kindheit ist geprägt von der Unvereinbarkeit zweier Welten. Da der arbeitsame, stets in sich gekehrte Vater chinesisch-panamaischer Abstammung, dort die geltungssüchtige, stets an Heimweh leidende Mutter schwäbischer Herkunft. „Ich hörte ihn erneut chinesisch sprechen, aber nur sehr selten. In chinesischen Restaurants, gelegentlich am Telefon, ein oder zwei Mal im Schlaf und im Krankenhaus, als er im Sterben lag. Er war tatsächlich Chinese. Bis zu jenem Tag hatte ich es nicht wirklich geglaubt.“

Letztlich flieht die Ich-Erzählerin aus dieser engen und bedrückenden Welt ihres Elternhauses in die Welt des Balletts, wo Leistung, Disziplin, Drill, unerbittliche Strenge und Magersucht ihr für eine gewisse Zeit Richtung und Halt geben, auf Dauer aber auch nicht glücklich machen. Nachdem die ersten beiden Kapitel des Romans Vater und Mutter gewidmet sind und Kapitel drei dem Ballett, widmet sich Nunez im vierten und letzten Kapitel ihrem rätselhaften Geliebten aus Odessa. Vadim, „ein sehr schlechter Mensch. Ein Rohling. Ein Zuhälter. Eine Bedrohung für Frauen.“ Vadim nimmt Drogen, vertilgt Alkohol in rauen Mengen und hat einen großen Frauenverschleiß. Gerade diese kriminelle Energie und die damit einhergehende Furchtlosigkeit fasziniert die junge Frau sehr. „Das Leben eines Banditen (…) Je mehr mir Vadim von seiner Vergangenheit erzählt, umso weniger will ich davon hören. Aber wie sonst soll ich ihn verstehen? Ich muss alles wissen.“

Die Autorin Nunez lässt den Leser teilhaben, an ihrem faszinierend-fesselnden Blick auf ihre Vergangenheit, auf die zentralen Figuren ihres Lebens. Wie Sigrid Nunez die Erinnerungsbilder und Erzählstränge gekonnt zusammenführt, dafür eine literarische Sprache findet und Widersprüche und bittere Erkenntnisse nicht ausklammert, ist tatsächlich große Kunst und überaus lesenswert.

Foto: (c) Marion Ettlinger