Siri Hustvedt - Das Selbst, die Grenzen und die Merkmale der Identität

Siri Hustvedt - Das Selbst, die Grenzen und die Merkmale der Identität

Veröffentlicht am 12.05.2025

Ein Porträt der großen amerikanischen Autorin Siri Hustvedt, zu ihrem 70. Geburtstag. Von Brigitte Winter.

Siri Hustvedt ist eine der erfolgreichsten amerikanischen Autorinnen. Sieben Romane und mehrere Bände mit Essays umfasst ihr beeindruckendes Werk, und die vielfach gebrochene Wahrnehmung, das Spiel mit Masken und dem, was man heute auch als Gender-Diskurs bezeichnet, ist in allen präsent. Doch lange wurde sie nur als schreibendes Anhängsel ihres Mannes Paul Auster gesehen – entsprechend scharf registriert sie sexistische Verhaltensweisen. Das überaus fruchtbare Kränkungspotenzial (so Andrea Köhler in der NZZ, 3.3.2019) spürt man sowohl in ihren Essays als auch in ihren Romanen.

Siri Hustvedt ist als Tochter der Norwegerin Ester Vegan Hustvedt und des Amerikaners Lloyd Hustvedt am 19. Februar 1955 in Northfield, einer Kleinstadt im Süden von Minnesota, geboren und verbrachte ihre Kindheit dort mit ihren Eltern und ihren drei jüngeren Schwestern Liv, Asti und Ingrid. Ihre Mutter Ester war zu Hause bei den Kindern und arbeitete später als Französischlehrerin und in der Bibliothek des St. Olaf College. Der Vater, Lloyd Hustvedt, lehrte norwegische Sprache und Literatur am St. Olaf College und wurde geschäftsführender Sekretär der Norwegian American Historical Association, eine unbezahlte Position, die er vierzig Jahre ausfüllte. Er starb 2004, während seine Frau Ester noch in Northfield lebt.

1959 war Siri Hustvedt zum ersten Mal in Norwegen. 1967/68 lebte die Familie in Bergen und die vier Mädchen besuchten die Rudolf-Steiner-Schule. Den folgenden Sommer haben sie in Island, in Reykjavik, verbracht, wo ihr Vater die Sagas studierte. In dem autobiografischen Essay „Extracts From the Story of a Wounded Self“ beschreibt Siri Hustvedt ihre umfangreiche Lektüre in diesem Sommer und ihren Entschluss, Schriftstellerin zu werden. Während ihrer Highschool-Zeit schrieb sie weiterhin Gedichte und Geschichten. 1972 verbrachte sie ein Jahr als Auslandsschülerin wiederum in Bergen.

Nach ihrer Rückkehr in die USA besuchte sie das St. Olaf College und schloss 1977 ihr Studium der Geschichte ab. Ein Jahr lang arbeitete sie in ihrer Heimatstadt als Barkeeperin und ging anschließend mit einem Stipendium nach New York, um an der Columbia University Englisch zu studieren. Sie wurde Mitarbeiterin des Dichters und Professors Kenneth Koch und war in verschiedenen Gelegenheitsjobs tätig (als Kellnerin, Assistentin für einen Medizinhistoriker, Kaufhausmodel und Atelierbetreuerin). 1981 erschien ihr erstes Gedicht in der „Paris Review“ und ab 1982 unterrichtete sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Queens College.

Ein Jahr zuvor hat sie bei einer Dichterlesung den Schriftsteller Paul Auster kennengelernt, den sie bereits am Bloom’s Day (16. Juni) 1982 heiratete. 1983 veröffentlichte sie ihr erstes Buch, den kleinen Gedichtband „Reading to You“ („Ich lese dir vor“). In der Zwischenzeit befasste sie sich mit ihrer Dissertation („Über Sprache und Identität bei Charles Dickens“), sie 1986 abschloss. 1987 wurde ihre Tochter, die spätere Singer-Songwriterin Sophie Hustvedt Auster, geboren.

Die ersten Romane

Nach ihrer Promotion wandte sich Siri Hustvedt der Belletristik zu und begann mit der Arbeit an ihrem ersten Roman „The Blindfold“ („Die Augenbinde“, auf Deutsch mit dem Titel „Die unsichtbare Frau“), der 1992 erschien.

Ihre Protagonistin heißt Iris Vegan und ist Literaturstudentin in New York. Um über die Runden zu kommen, nimmt sie mitunter skurrile Nebenjobs an. So soll sie etwa die Gegenstände aus dem Nachlass einer geheimnisvollen Frau beschreiben und stellt eigene Nachforschungen an. Man erlebt ihre Beziehungen und ihren von einer Migräneerkrankung beeinträchtigten Alltag mittels detailgetreuer Schilderung mit. Nach mehreren schweren Migräneanfällen landet sie in einem Krankenzimmer mit Frau O., die nach einem Schlaganfall ihren Verstand und ihr Gedächtnis verloren hat, aber dennoch ihre Mitpatientin quält. Während sie mit Professor Rose, ihrem Lehrer und Geliebten an der Übersetzung einer deutschen Novelle mit dem Titel „Der brutale Junge“ arbeitet, verwandelt sie sich in deren Protagonisten Klaus und wandert dann als Mann verkleidet durch die Straßen New Yorks. Schon in Hustvedts Debüt geht es um die Themen, die auch die folgenden Romane Hustvedts bestimmen werden: Identität, Erinnerung, Geheimnisse.

In „The Enchantment of Lily Dahl“ (1996, „Der Zauber der Lily Dahl“), Hustvedts zweitem Roman, träumt die 19-jährige Lily Dahl von einer Karriere als Schauspielerin. Sie haust in Webster, Minnesota, in einem Zimmer über dem Café an der Hauptstraße, in dem sie als Kellnerin arbeitet und lernt die Rolle der Hermia für eine lokale Aufführung von „Ein Sommernachtstraum“. Die Traumwelt von Shakespeares Stück und die zunehmend mysteriösen Ereignisse, die ihr widerfahren, werden von Hustvedt geschickt miteinander verknüpft. Ausgangspunkt dieser Ereignisse scheint die lange zurückliegende Ermordung einer Frau namens Helen Bodler, deren Mann, ein Farmer, sie angeblich lebendig begraben hatte. Lily serviert täglich das Frühstück für Helens inzwischen erwachsene Söhne, die ziemlich verrückten und ungewaschenen Farmer Frank und Dick, und für den exzentrischen Einzelgänger Martin Petersen, einen weiteren Verwandten der verstorbenen Helen. Als neue Morde und geisterhafte Sichtungen (ausgerechnet von Lily selbst) gemeldet werden, verwandelt sie sich in eine furchtlose Detektivin und schafft es schließlich nicht nur, alles aufzudecken, sondern auch cool zu bleiben. Der zugezogene Künstler Ed Shapiro, ihr Geliebter, der alles über die Oper weiß und nächtelang an geheimnisvollen Leinwänden arbeitet, bietet ihr an, sie nach New York City zu entführen. Leicht lesbar und unterhaltsam vermischt sich in diesem Roman Mysteriöses mit Mord und Tod sowie Provinzkarikaturen.

In dem darauffolgenden, sehr berührenden elegischen Roman „What I Loved“ (2003, „Was ich liebte“) erzählt Siri Hustvedt von Verlusten, Unglück und Trauer am Beispiel des New Yorker Künstlerlebens, über die die Zeit unbarmherzig hinweggeht. Halbblind und allein erzählt Leo (der Kunsthistoriker Leon Hertzberg) von Ehe und Freundschaft und macht die nunmehrige Zerbrechlichkeit dessen, was einst für immer schien, zum Thema. Es geht um die Beziehung zwischen ihm und dem Künstler Bill Wechsler sowie zwischen den einzelnen Familienmitgliedern. Leo und seine Frau Erica bewundern den Künstler Bill und seine zwei Frauen. Dessen Sohn Mark und ihr eigener Sohn Matthew wachsen gemeinsam auf, doch Matthew stirbt plötzlich und voller Trauer trennen sich Leo und Erica. Eine Spirale schrecklicher Dinge entspinnt sich, über die sie nicht hinwegkommen. Der Roman beeindruckt mit seiner emotionalen Intensität und der Darstellung und Analyse von Emotionen. Es sind kluge und talentierte Menschen, auch die Kinder, die intelligent die jeweiligen Situationen mithilfe der geschickten Erzählerin Siri Hustvedt erfassen können. Faszinierend entwickelt das Werk die Porträts zweier befreundeter Künstlerfamilien in Soho, erzählt von Idealen und Lebensentwürfen, von Eltern und Kindern – und wie ein tragischer Unfall ein sorgsam geplantes Glück jäh zerstört.

Psychoanalyse und Neurowissenschaften

Seit ihrer Kindheit leidet Siri Hustvedt an Migräne mit Aura – eine neurologische Erkrankung, die vorübergehend vor oder während eines Migräneanfalls auftreten kann (diese Aura äußert sich etwa in Form von Seh- oder Sprachstörungen, sensorischen Veränderungen oder anderen neurologischen Symptomen). Nicht zuletzt deswegen war Hustvedt daher schon früh von Psychoanalyse, Neurologie und Psychiatrie fasziniert. Seit Ende der 1990er Jahre beschäftigt sie sich damit und war auch einige Jahre ehrenamtlich als Schreiblehrerin für psychiatrische Patienten in einer New Yorker Klinik tätig.

2006 erlitt sie während einer Gedenkrede für ihren Vater ein heftiges Zittern. In ihrem Buch „The Shaking Woman or A History of My Nerves“ („Die zitternde Frau. Eine Geschichte meiner Nerven“) legt sowohl ein persönlicher Bericht über ihre folgenden Erfahrungen als Patientin mit einem unerklärlichen Symptom als auch eine Untersuchung der Mehrdeutigkeiten der Diagnose aus der Perspektive der Medizingeschichte, der Neurologie, Psychiatrie, Psychoanalyse, Neurowissenschaft und Philosophie vor.

Seitdem teilt sich Siri Hustvedt ihre Zeit zwischen dem Schreiben von Belletristik und Sachbüchern auf und hält mitunter Vorträge zu Neurowissenschaften, Psychoanalyse, Philosophie und Literatur (2011 auch in Wien). Ihre Texte hierzu hat sie in zahlreichen wissenschaftlichen Zeitschriften veröffentlicht. 2015 wurde sie zur Dozentin für Psychiatrie am Weill Cornell Medical College ernannt, an dem sie Seminare zur narrativen Psychiatrie für Assistenzärzte und Nachwuchswissenschaftler hält.

Der Sommer ohne Männer

In ihrem ersten offen autobiografischen Roman „The Sorrows of an American“ (2008, „Die Leiden eines Amerikaners“) erzählt Siri Hustvedt von einer norwegisch-amerikanischen Familie und ihren Problemen. Erik Davidsen und seine Schwester Inga finden in den Papieren ihres verstorbenen Vaters eine beunruhigende Notiz und glauben, er könnte in einen mysteriösen Todesfall verwickelt sein. Erik ist ein Psychiater, der seinen Patienten gegenüber sehr direkt und mitunter verletzend ist. Inga hingegen arbeitet als Schriftstellerin, deren verstorbener Ehemann (ein berühmter Autor) scheinbar ein geheimes Leben hatte, sie erfährt vieles aus den frühen Jahren ihres Vaters (Armut, Krieg, Depression). Siri Hustvedt verwendete hier Passagen aus dem Tagebuch ihres eigenen verstorbenen Vaters über die Depression in Amerika und den pazifischen Kriegsschauplatz während des Zweiten Weltkriegs. Der Roman spielt auf mehreren Zeitebenen und schildert eindrucksvoll die schwierigen Verhältnisse in der Familie Davidsen, wobei die meisten Geheimnisse am Ende doch einigermaßen geklärt werden.

In „The Summer Without Men“ (2011, „Der Sommer ohne Männer“) fordert Mias Ehemann, mit dem sie seit 30 Jahren verheiratet ist, eine Pause in ihrer Beziehung (die Pause, um die es geht, ist klug und „natürlich jung, zwanzig Jahre jünger als ich“). Sie ist sich durchaus bewusst, dass sich diese Dynamik „täglich bis zum Überdruss“ überall auf der Welt wiederholt. Dennoch führt sie zu einem kurzen, aber spektakulären Zusammenbruch in einer psychiatrischen Klinik und von dort für einen Sommer der Erholung in die Stadt ihrer Kindheit in Minnesota. Dort plant Mia, Zeit mit ihrer alten Mutter zu verbringen, einer Gruppe pubertierender Mädchen Poesie beizubringen und zu sehen, ob aus der Pause ein endgültiger Schluss wird.

Mit 55 Jahren ist Mia für die Bewohnerinnen der betreuten Wohngemeinschaft ihrer Mutter noch immer „nur ein Kind“ – Frauen, die ihre Ehemänner überlebt haben und jetzt einen langen Winter ohne Männer durchstehen müssen. Mit Blick auf das Alter durchlebt Mia anhand der Mädchen und Frauen, denen sie begegnet, Stationen ihres Lebens. Erinnerungen an die Kindheit werden von Flora, einem Kleinkind von nebenan mit ihrem imaginären Freund, geweckt. Als sie einen Fall von Mobbing in der Poesiegruppe aufdeckt, begegnet sie der „absurden, aber ergreifenden Realität von Mädchen an der Schwelle“ und wird von ihren gleichaltrigen Freundinnen in eine eigene Ausgrenzung zurückversetzt. Siri Hustvedt breitet hier anhand der Figuren wieder ihr großes Thema aus: das Selbst, die Grenzen und die Merkmale der Identität, die Veränderungen des Selbst im Lauf der Zeit, inwieweit es dem Einfluss anderer unterworfen ist und welchen Einfluss es auf die Außenwelt ausübt.

„Alle intellektuellen und künstlerischen Unterfangen, sogar Witze, ironische Bemerkungen und Parodien, schneiden in der Meinung der Menge besser ab, wenn die Menge weiß, dass sie hinter dem großen Werk oder dem großen Schwindel einen Schwanz und ein paar Eier ausmachen kann“ – so lautet der erste Satz der Malerin und Protagonistin in Siri Hustvedts großem Roman „The Blazing World“ (2014, „Die gleißende Welt“). Es geht um das alte feministische Thema des Fehlens von Künstlerinnen in der Geschichte der Malerei. Der Roman handelt von der verbitterten Malerin Harriet Burden, die am Ende des 20. Jahrhunderts in New York lebt und deren Glaube, ihr Leben lang Opfer kultureller Frauenfeindlichkeit gewesen zu sein, letztlich so unerträglich wird, dass sie beschließt, etwas dagegen zu unternehmen: Sie überredet drei ihrer männlichen Zeitgenossen, die (männlichen) Werke unter Harriet Burdens Namen auszustellen.

In den Augen der New Yorker Kunstwelt ist Harriet Burden (von ihren Vertrauten Harry genannt) bestenfalls eine Nebenfigur; schlimmstenfalls ist die geringe Anerkennung, die sie erfährt, dem Einfluss ihres Mannes zuzuschreiben, eines einflussreichen Kunsthändlers, der ihre Karriere hätte voranbringen können, wenn sie ihn nicht geheiratet hätte. Das kritische Establishment kennt Harriet vor allem als Gastgeberin der Dinnerpartys ihres Mannes und als Mutter seiner beiden Kinder.

Der Roman ist als eine Art Artefakt aus zahlreichen Zeugenaussagen konstruiert: Er gibt vor, das Werk eines Wissenschaftlers zu sein, der Harriet Burdens Behauptungen der Autorschaft Jahre nach ihrem Tod untersuchte, und er ist eine Sammlung von Interviews, Essays, Artikeln und Briefen, die das Spektrum der Reaktionen auf den vermeintlichen Skandal veranschaulichen. Harriet wählte ihre männlichen Gegenstücke sorgfältig aus, um verschiedene Aspekte der Unnötigkeit männlichen künstlerischen Ruhms darzustellen. Siri Hustvedt bietet in diesem fulminanten Roman, der sich als literarische Rachefantasie erweist, viel unterhaltsamen satirischen Spaß, doch ein besonderer Ton der Tragödie bleibt. Denn es ist klar: „Nicht Talent, sondern Geschlecht ist in dieser Gesellschaft der Maßstab“.

In ihrem bislang letzten Roman „Memories of the Future“ (2019, in deutscher Übersetzung: „Damals“) erzählt Siri Hustvedt die Geschichte des ersten Jahres einer jungen Frau aus dem Mittleren Westen in New York City Ende der 1970er Jahre und ihrer Obsession für ihre geheimnisvolle Nachbarin Lucy Brite. Während sie Lucy durch die dünnen Wände des baufälligen Gebäudes zuhört, schreibt S.H., alias „Minnesota“, die zunehmend unheilvollen Monologe ihrer Nachbarin zusammen mit diversen anderen Abenteuern in ein Notizbuch.

Vierzig Jahre später entdeckt die mittlerweile erfahrene Autorin S.H. ihr altes Notizbuch und die Entwürfe eines nie fertiggestellten Romans. Durch die Gegenüberstellung der Texte vergleicht S.H. ihre nunmehrigen Erinnerungen mit den Aufzeichnungen, dessen Inhalt sie vergessen hat. Es entsteht ein spannender Dialog zwischen dem damaligen und dem heutigen Menschen über Jahrzehnte hinweg.

Das Buch ist keine Autobiografie, auch wenn viele Details auf Siri Hustvedt verweisen. Es ist ein intelligenter, ironischer, aber auch analytischer Blick auf die Zeit von „Damals“ – wobei der Originaltitel „Memories of the future“ viel besser der Vielschichtigkeit entspricht.

Essays

1995 begann Siri Hustvedt, über Kunst zu schreiben, als ihre damalige Verlegerin sie bat, ein einzelnes Gemälde aus der Ausstellung „Johannes Vermeer“ in der National Gallery in Washington auszuwählen. Ihr Essay „Vermeers Verkündigung“ plädierte für eine Interpretation der „Frau mit Perlenkette“ als Verkündigung und nicht als eucharistisches Bild, was die wissenschaftliche Wahrnehmung des Bildes nachhaltig veränderte. Der Essay findet sich auf Deutsch im Band „Yonder“ (1998, „Nicht hier, nicht dort“). Sie schrieb auch weiter hin und wieder über bildende Kunst und veröffentlichte 2006 eine Sammlung ihrer Schriften zur Malerei mit dem Titel „Mysteries of the Rectangle“, mit Texten über Vermeer, Goya, Chardin, Gerhard Richter u.a.

Ein Teil von „Living, Thinking, Looking“ (2012, „Leben, Denken, Schauen“) ist ebenfalls der Kunst gewidmet. Die Essays in „Living“ beziehen sich direkt auf Hustvedts Leben; diejenigen in „Denken“ widmen sich der Erinnerung, Emotionen und der Vorstellungskraft, und die Stücke in „Looking“ handeln von bildender Kunst. In der gesamten Sammlung tauchen jedoch immer wieder dieselben Fragen auf. Wie sehen, erinnern und fühlen wir? Wie interagieren wir mit anderen Menschen? Was bedeutet es, zu schlafen, zu träumen und zu sprechen? Was ist denn „das Selbst“? Hustvedts einzigartige Verbindung von Wissen aus unterschiedlichen Bereichen belebt einen dringend benötigten Dialog zwischen den Geistes- und Naturwissenschaften.

Der Biologie und der Funktionsweise der menschlichen Wahrnehmung widmen sich die Texte in „A Woman Looking at Men Looking at Women. Essays on Art, Sex, and the Mind“ (2016, „Eine Frau schaut auf Männer, die auf Frauen schauen: Essays über Kunst, Geschlecht und Geist“). Der erste Abschnitt, „A Woman Looking at Men Looking at Women“, ist in drei Teile gegliedert und untersucht die Wahrnehmungs- und Geschlechtervorurteile, die Einfluss darauf haben, wie wir Kunst, Literatur und die Welt im Allgemeinen beurteilen (Beispielfiguren sind hier Picasso, De Kooning, Jeff Koons, Anselm Kiefer, Susan Sontag, Robert Mapplethorpe, die Guerrilla Girls und Karl Ove Knausgård). Der zweite Teil, „Die Wahnvorstellungen der Gewissheit“, handelt von dem uralten Geist-Körper-Problem, das die westliche Philosophie seit den Griechen heimsucht. Hustvedt erklärt die Beziehung zwischen dem mentalen und dem physischen Bereich und zeigt, was jenseits aller Argumente liegt – nämlich das Verlangen, der Glaube und die Vorstellungskraft. Der letzte Abschnitt „Was sind wir? Vorlesungen über den menschlichen Zustand“ behandelt neurologische Störungen und die Geheimnisse der Hysterie. Dieser Abschnitt stützt sich auf die neuesten Forschungen in der Soziologie, Neurobiologie, Geschichte, Genetik, Statistik, Psychologie und Psychiatrie und enthält auch eine tiefgreifende und aussagekräftige Betrachtung zum Thema Suizid.

„Mothers, Fathers, and Others“ (2022, „Mütter, Väter und Täter“) ist ihre bislang letzte Buchveröffentlichung betitelt, mit 20 Texten (vor allem Essays und Reden). Hier zeigt Siri Hustvedt die ungeheure Bandbreite ihres Wissens und Forschens. Sie ist die große Stärke der „intellektuellen Vagabundin“, wie sie sich selbst in einem der Essays bezeichnet. In diesem Text beschreibt sie eindrucksvoll die Vorzüge eines breit gestreuten Interesses, das verschiedene Themen miteinander in Schwingung versetzen kann. Es sind instruktive und kenntnisreiche Essays zu Themen, die Romanautorinnen nur selten so informiert erörtern. Es geht um Philosophie, Kunst, Biologie, Psychoanalyse, True Crime und Literatur, und es werden scheinbare Gewissheiten hinterfragt, was durchaus produktiv sein kann.

Wenn es so etwas wie einen roten Faden in dem Buch gibt, dann ist es Hustvedts lebenslange Beschäftigung mit Misogynie. Sie schreibt: „Ich habe alles, was ich zu dem Thema auftreiben konnte, gelesen“ und erzählt die Geschichte ihrer Großmutter, da in Familienerzählungen meist nur Männer vorkamen. Sie fragt, woher der Hass kommt, der Frauen seit Jahrhunderten entgegenschlägt. Sie erörtert einen Kriminalfall, bei dem ein Mädchen sadistisch zu Tode gequält wurde, und fragt, was das mit ihrer Jugend und Jungfräulichkeit zu tun hatte. Und sie beschreibt, wie sie selbst ihr ganzes Leben lang unterschätzt wurde.

Die Literaturredakteurin Sandra Kegel konnte Siri Hustvedt besuchen, die, so Kegel „noch immer in jenem Brownstone um die Ecke des Prospect Parks in Brooklyn lebt, in dem sie jahrzehntelang mit ihrem Mann, dem 2024 verstorbenen Schriftsteller Paul Auster, gewohnt hat“ (FAZ 19.2.2025). Im Gespräch meint sie, „Memoiren seien ihr zu konventionell, aber das Gedächtnis interessiert sie, weshalb Erinnerungen immer wieder den Weg in ihre Romane finden, die eher mit dem eigenen Leben spielen, als es abzubilden. Auch wenn die Protagonistinnen ihrer Bücher die Initialen SH tragen, teilen sie längst nicht alles mit ihrer Schöpferin.“ Und im selben Gespräch konstatierte Siri Hustvedt, sie sei wie in allen ihren Büchern immer beides: „Forscherin und Objekt meiner Forschung, Doktorin und Patientin“. Ihre Arbeit sei stets „von dem Gedanken getragen, nicht nur zu schreiben, um zu erzählen, sondern um zu entdecken.“

Foto: (c) Spencer Ostrander