Spritzendorfer, Alexander - Karl Seitz

Spritzendorfer, Alexander - Karl Seitz

Veröffentlicht am 16.05.2024

Bürgermeister des Roten Wien. Eine Biografie.

Fast 100 Jahre nach dem Amtsantritt von Karl Seitz als Bürgermeister des Roten Wien, der historischen Phase der sozialdemokratischen Stadtregierung in den 1920er und frühen 1930er Jahren, legt Alexander Spritzendorfer eine Biografie vor. Er beginnt sie bezeichnenderweise mit der Frage: „Wer ist Karl Seitz?“. Denn im kollektiven Gedächtnis ist er nicht unbedingt präsent geblieben. Dabei zeigt die Biografie einen beeindruckenden Lebensweg mit prägenden Ereignissen vor allem in der Ersten Republik.

Die Biografie beginnt – vielleicht etwas ungewöhnlich – nicht mit der Kindheit oder Jugend von Karl Seitz, sondern mit der letzten Sitzung des Parlaments am 4. März 1933, bevor Dollfuß die „Geschäftsordnungskrise“ zum Vorwand nahm, das Parlament auszuschalten. Erst danach folgen die Kapitel, die sich mit der Kindheit und Jugend von Karl Seitz beschäftigen, mit dem „Glück“, das ihn Lehrer werden ließ, und mit seinen Anfängen in der Sozialdemokratie. All dies, während diese Bewegung der Arbeiter:innen noch in ihren Kinderschuhen steckte und das allgemeine (Männer-)Wahlrecht noch nicht umgesetzt war – ein hartes politisches Pflaster, auf dem Karl Seitz reüssierte.

Breiten Raum nimmt, naturgemäß, sein Wirken in der Ersten Republik ein. Er war nicht nur der erste Nationalratspräsident. Zugleich ist er für seine ausgleichenden Fähigkeiten zwischen den Fraktionen und auch für seine scharfen politischen Reden bekannt. „Wenn wir einmal nicht mehr reden können, werden diese Steine für uns sprechen”, sagte Karl Seitz bei der Eröffnung des Karl-Marx-Hofs. Wahre Worte, wenn man bedenkt, wie sehr die Gemeindebauten der 1920er Jahre noch heute das Stadtbild Wiens prägen. Und doch können uns die Steine nichts über Karl Seitz erzählen, deshalb ist es gut, dass es diese Biografie gibt.

Die vorliegende Biografie von Karl Seitz vermittelt in vielen, eher kürzeren Kapiteln einzelne Abschnitte aus seinem Leben. Oft greift der Autor aber auch historische Ereignisse auf, die sich zu einem bestimmten Zeitpunkt rund um sein Leben zugetragen haben. Da reist man schon mal mit Lenin im Zug von der Schweiz ins revolutionäre Russland oder mit Thomas Mann im Jahr des „Anschlusses“ 1938 in die USA. Man muss diese Exkurse mögen, aber sie sind wertvoll, weil sie ein Bild vom historischen Kontext vermitteln.

Ebenso mögen sollte man die Liebe zum historischen Detail, die der Autor an den Tag legt. Wo sonst liest man eine seitenlange detaillierte Schilderung der besagten letzten Nationalratssitzung? Warum sie von den Sozialdemokraten einberufen wurde? Ein Eisenbahnerstreik. Wie es zu dem Abstimmungsfehler kam, der zur Wiederholung führte? Ein bedauerliches Hoppala. Wie es zum Rücktritt der drei Nationalratspräsidenten kam? Eine strategische Überlegung.

Besonders eindrucksvoll ist sein politisches Wirken in den letzten Jahren der Monarchie. Als junger Lehrer fiel er hier schnell „negativ” auf, so dass ihn zum Beispiel Karl Lueger von der Geheimpolizei bespitzeln ließ. Der Einblick in die Funktionsweise des Schulwesens im ausgehenden 19. Jahrhundert und in die Entwicklung der sozialdemokratischen Bildungspolitik ist dennoch sehr erhellend.

Gleichzeitig sind die vielen kurzen Kapitel wie Mosaiksteine, die aber nur eingeschränkt auf die Frage „Wer ist Karl Seitz?“ antwortet. So ergibt sich nicht unbedingt ein rundes Gesamtbild. Am Ende weiß man zwar mehr über sein Leben und sein politisches Wirken, aber ein richtiges „Gspür” für den Bürgermeister des Roten Wien hat sich nicht eingestellt.
Julia Stroj

Spritzendorfer, Alexander - Karl Seitz
Bürgermeister des Roten Wien. Eine Biografie. Wien: Falter 2023. 272 S. - fest geb. : € 29,95 (BI) ISBN 978-3-85439-729-8

Für meine Bücherei kaufen Als Privatperson kaufen