Suter, Martin - Melody

Veröffentlicht am 22.05.2023
Eine lebenslange ergebnislose Suche nach der spurlos Verschwundenen
Tom Elmer, ein junger Jurist, findet in der Person des alten, schon todgeweihten Schweizer Alt-Nationalrats Dr. Peter Stotz, einen Arbeitgeber, der seinen Nachlass schon zu Lebzeiten geordnet sehen will. Er möchte damit sicherstellen, dass seine Lebensgeschichte auch posthum auf eine von ihm vorbestimmte Art und Weise erzählt wird. Eigentlich geht es ihm aber gar nicht um seine ganze Lebensgeschichte, sondern ausschließlich um seine tragische Beziehung zur schönen jungen Buchhändlerin Melody, die kurz vor der gemeinsamen Eheschließung spurlos aus seinem Leben verschwunden ist.
Was folgt, ist eine lebenslange ergebnislose Suche nach ihr. Dennoch ist Melody auch heute in der feudalen Villa am Zürichberg des Dr. Stotz omnipräsent. Sei es etwa auf den von ihm gemalten Porträts dieser Frau, Fotos aus der gemeinsamen Zeit bei Events der Schweizer High Society, oder durch ihre unverwechselbaren Stickereiarbeiten. Von dieser unglücklichen, fast sein gesamtes Leben prägenden Beziehungsgeschichte erzählt Dr. Stotz detailreich bei der täglichen Routine gemeinsamen Essens und reichlichem Zuspruch zu alkoholischen Getränken mit Tom. Manchmal sind auch seine Großnichte Laura und sein alter Freund, der Schriftsteller Bruno Schären, mit von der Partie.
Martin Suter lässt seine Protagonist:innen dabei immer wieder inspirierende Dialoge führen, wie etwa diesen: „'Wenn du Fragen zu meiner Person hast, Tom, wende dich an Bruno. Er kennt mich auch seit über 40 Jahren.' Bruno Schären nickte. 'Aber glaube ihm nicht alles. Er ist Schriftsteller. Die lieben die Fiktion mehr als die Wahrheit'“. Schären, der genießerisch den Duft des Cognacs eingesogen hatte, nahm erst einen kleinen Schluck, bevor er sagte: „In der Fiktion steckt oft mehr Wahrheit als in den Fakten.“ Nach Dr. Stotz‘s plötzlichem Ableben beginnen Tom und Laura, seine Erzählung über Melody und ihr Verschwinden zu hinterfragen. Ihren dabei hinterlassenen Spuren folgend, reisen sie nun an Orte, an denen auch der Verstorbene Melody angeblich schon gesucht hatte. Dabei schreiben sie plötzlich die Geschichte seiner großen Liebe völlig neu …
Martin Suter, der derzeit wohl renommierteste Schweizer Bestsellerautor, erweist sich zu seinem 75. Geburtstag einmal mehr als famoser Geschichtenerzähler. Nach der durchaus genussvollen Lektüre seines neuesten Buches kann man auch sehr gut nachvollziehen, warum er in einem Interview in der Tageszeitung „Die Presse“ vom 26. März 2023 sagt: „Als Schweizer ist man halt langsam.“ Erwarten Sie also keinen atemberaubenden Plot oder sprachlich mitreißendes Lesevergnügen, sondern eine gemächlich sich entwickelnde Handlung, die flüssig und leichtverdaulich dargeboten wird.
Gerald Wödl
Suter, Martin - Melody
Roman. Zürich: Diogenes 2023. 331 S. - fest geb. : € 26,80 (DR) ISBN 978-3-257-07234-1