Sylvia Plath - Sterben kann ich besonders schön

Sylvia Plath - Sterben kann ich besonders schön

Veröffentlicht am 19.04.2023

Christine Hoffer über die große Dichterin.

Sylvia Plath ist heute eine Kultfigur. Wie keiner anderen amerikanischen Dichterin gelang es ihr, der Situation und den Konflikten von Frauen in den 1950er und frühen 1960er Jahren eine Stimme zu verleihen. Ihre Gedichte, in denen sie eine Form für den Ausdruck traumatischer Erfahrungen und radikaler Selbsterforschung gefunden hat, haben nicht nur die amerikanische Lyrik verändert. Sie wurde zum Symbol der leidenden Frau in einer von Männern beherrschten Welt. Ihr Selbstmord und die Diskussion über ihre Ehe mit dem englischen Dichter Ted Hughes trugen dazu bei, dass das Interesse an ihrem Leben ihre Kunst zu überlagern droht. Da ihre Gedichte in vielen Fällen ihre persönlichen Erfahrungen ganz direkt zu verarbeiten scheinen, stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Leben und Werk fast zwangsläufig.

Geboren am 27. Oktober 1932 als Tochter des deutschstämmigen Biologieprofessors Otto Emil Plath und der Lehrerin Aurelia Schober Plath (1906–1991), die aus einer österreichischen Einwandererfamilie stammte, war der frühe Tod ihres Vaters, der 1940, knapp nach ihrem achten Geburtstag starb, das einschneidendste Erlebnis in ihrer Kindheit. Otto Plath war ein bekannter Biologe, der am Boston College unterrichtete. Von 1950 bis 1955 studierte Sylvia Plath am renommierten Smith College in Northampton, Massachusetts, wo sie schon verschiedene Preise für Gedichte und Kurzgeschichten gewann und war studentische Lektorin für das Frauenmagazin „Mademoiselle“ in New York. Probleme, ihre traumatischen Kindheitserfahrungen zu verarbeiten, sowie zunehmende Spannungen in ihrer Persönlichkeit führten im Sommer 1953 (im Alter von 20 Jahren) zu einem Selbstmordversuch mit Schlaftabletten, der einen längeren Krankenhausaufenthalt und eine Elektroschockbehandlung nach sich zog.

Von 1955 bis 1957 studierte sie dann an der Cambridge University in England. Dort lernte sie Ted Hughes kennen, den sie auch 1956 heiratete. Ab Herbst 1957 unterrichtete sie ein Jahr lang am Smith College. 1958 zog sie nach Boston, wo sie Creative Writing Workshops des bekannten Dichters Robert Lowell teilnahm und auch die Lyrikerin Anne Sexton kennenlernte. Im Dezember 1958 musste sie sich wegen einer bipolaren Störung erneut in psychiatrische Behandlung begeben. Sie erkannte für sich, dass das Universitätsleben sie von der Literatur fernhielt: Hughes und Plath siedelten also im Dezember 1959 nach England über, wo 1960 die Tochter Frieda Rebecca geboren wurde. 1961 hatte sie eine Fehlgeburt. Um Kinderversorgung und Schreiben zu vereinbaren, zog die Familie nach Devon, wo sie an ihrem Roman “The Bell Jar“ („Die Glasglocke“) arbeitete.

Nach der Geburt ihres Sohnes Nicholas Farrar (1962) hatte sie noch weniger Zeit zum Schreiben; Ted Hughes verließ die Familie und willigte entgegen Sylvias Hoffnung in die Scheidung ein. Sie vermutete, dass er von der Häuslichkeit abgestoßen war und in London seinen wachsenden Ruhm genießen wollte und bemerkte, dass während ihrer Ehe ihre eigene Arbeit zu kurz gekommen war: “Ich werde eine reiche aktive Frau sein – nicht der Diener-Schatten, der ich war.” In diese Zeit nach der Trennung fiel eine intensive Schaffensphase. Aber der Optimismus hielt nicht an: Im Dezember zog sie mit ihren Kindern wieder nach London und erwog, sich in psychiatrische Behandlung zu begeben.

Dazu kam es aber nicht mehr. Vier Wochen nach der Veröffentlichung ihres Romans, am 11. Februar 1963, beging sie Selbstmord, indem sie erneut Schlafmittel schluckte, die Küche mit Handtüchern abdichtete, den Gashahn des Herdes aufdrehte und den Kopf in den Backofen legte. Es wurden einige Abschiedsbriefe gefunden sowie ein mutmaßlicher Hilferuf an den Mieter unter ihr. Ihre Kinder schliefen in einem angrenzenden Zimmer. Sie wurde in Heptonstall, West Yorkshire, nahe der Geburtsstätte von Ted Hughes als Sylvia Plath Hughes beigesetzt.

Ihre Biografin Anne Stevenson schreibt, dass sie „den Tod suchte, über ihn spottete und ihren Zauber ausbreitete wie eine Hexe", Und in einem ihrer Gedichte in dem seit Oktober 1962 niedergeschriebenen Ariel-Zyklus schreibt sie: „Sterben kann ich besonders schön.“ Und ihr letztes Gedicht unterstreicht ihre Entschlossenheit: „Die Frau ist vollendet. / Ihr toter / Körper trägt das Lächeln des Erreichten.“ Die meisten Werke von ihr erschienen erst nach ihrem Tod. Ihr lyrisches Spätwerk aus den Jahren 1962 und 1963 veröffentlichte Ted Hughes 1965 in der Gedichtsammlung „Ariel“. Zu ihren Lebzeiten wurden nur zwei Bücher von Sylvia Plath veröffentlicht: „The Colossus“ (1960 in England, 1962 in den USA) und der autobiografische Roman „The Bell Jar“ (1963, „Die Glasglocke“), der unter dem Pseudonym Victoria Luca kurz vor ihrem Tod on England herauskam und erst 1966 unter ihrem eigenen Namen verlegt wurde.

Die Gedichte

„The Collossus“ enthält Gedichte, die die Form des Spätmodernismus virtuos handhaben, jedoch die persönliche Erfahrung noch weitgehend zurückhalten. Allerdings finden sich schon Zeichen einer eigenständigen, subjektiv gefärbten Stimme, so etwa in „The Disquieting Muses“ („Die beunruhigenden Musen“), in dem das lyrische Ich gegen die Mutterfigur rebelliert. „Stones“ („Steine“), das letzte Gedicht der Sammlung, geht auf Plaths Erfahrungen in einem psychiatrischen Krankenhaus zurück und thematisiert den Konflikt zwischen Todeswunsch und einer starken Lebensenergie. Dieses Gedicht weist schon auf „Ariel“ hin und kann als Zeichen eines poetischen Neubeginns gesehen werden.

Es sind vor allem die in „Ariel“ gesammelten Gedichte, auf denen Sylvia Plaths Ruf als Dichterin beruht. Den größten Teil dieser Texte schrieb sie erst in den letzten Monaten vor ihrem Tod. Hier wird ein vollkommen neuer Ton des radikalen Untersuchens weiblicher Erfahrung angeschlagen, und die Subjektivität findet eine Stimme, die auch Raum für unbewusste Impulse lässt, ohne allerdings nur „Aufschrei“ zu sein. Sie schreibt eine Lyrik des Exzesses, die tabuisierte Bereiche des privaten Lebens ausbreitet, Erfahrungen direkt und unzensiert registriert und den Körper ungeschönt beschreibt. Die Gedichte sprechen vom Tod, vom leidenden Körper, von Kindern und Mutterschaft, die widerstreitenden Rollenmuster einer Autorin und Mutter in den 1950er Jahren und vom Verhältnis zu Vater und Ehemann. In einigen Texten scheint der spätere Selbstmord bereits literarisch vorweggenommen. Die Gedichte sind poetischer Ausdruck einer Depression, die wohl auf ins Unerreichbare gesteigerte Anforderungen an sich selbst sowie den frühen, unverarbeiteten Tod ihres Vaters und ihre ehelichen Probleme zurückzuführen ist.

Die Glasglocke

Ihr einziger Roman „The Bell Jar“ (1963, „Die Glasglocke“) ist ein nur wenig verschlüsselter autobiografischer Text, der inzwischen als Klassiker des feministischen Romans gilt. Die Protagonistin Esther arbeitet zu Beginn des Textes als studentische Gastliteraturlektorin bei der renommierten intellektuellen Modezeitschrift „Ladies‘ Day“. Stark ironisch gefärbte Beschreibungen ihrer Erlebnisse bei Gesellschaftsempfängen und Partys sowie ihrer Mentorin, die für die professionelle Frauenrolle der Zeit steht, persiflieren die Sitten und Rituale der New Yorker Szene. Esther beginnt, ihr Leben als ständige Inszenierung und sich selbst als Zuschauerin zu sehen. Dazwischen sind Erinnerungen an die Collegetage und ihren Freund Buddy Willard eingestreut, der für die Erzählerin die traditionellen Erwartungen an die Frauenrolle verkörpert, die im Widerspruch zu ihrem eigenen Wunsch stehen, eine erfolgreiche Autorin zu werden.

Nach Rückschlägen auf dem Weg zu diesem Ziel verfällt Esther in eine tiefe Depression, fühlt sich wie „unter einer Glasglocke“ und unternimmt einen Selbstmordversuch. Der letzte Teil des Romans beschreibt eine langsame Genesung; es gelingt ihr, Kontakt zu der Ärztin Dr. Nolan aufzunehmen, so dass sich die Glasglocke zwischen ihr und der Welt langsam zu heben beginnt. Indem die Sprache des Romans vor allem im ersten Teil ironisch den Stil aufgreift, der von Geschichten in populären Magazinen erwartet wurde, kritisiert sie implizit die weiblichen Stereotypen der 1950er Jahre aus der Sicht einer jungen Frau, die mit ihnen in Konflikt gerät und daran fast zerbricht.

Für die Kurzgeschichten, die zuerst in Illustrierten wie „Seventeen“ und „Mademoiselle“ veröffentlicht wurden, zeigte Sylvia Plath deutlich unterschiedlichere Ambitionen als für ihre Gedichte. Sie richtete ihre Prosa, verglichen etwa mit ihrer späten Lyrik, mittels eher konventioneller Erzählstrukturen an den Marktvorgaben aus. Gleichzeitig verwendete sie aber rhetorische Stilmittel wie Spott und schwarzen Humor, um den amerikanischen Traum zu dekonstruieren. Ihr Bedürfnis, das Trauma, das sich unter der Oberfläche eines Mythos von Wohlstand, Glück und Unfehlbarkeit verbarg, bloßzulegen, ging einher mit ihrem Wunsch, innerhalb der herrschenden Strukturen zur erfolgreichen und anerkannten Schriftstellerin aufzusteigen.

Die Bibel der Träume

Viele Kurzgeschichten, die in deutscher Übersetzung in den beiden Sammelbänden „Die Bibel der Träume“ und „Zungen aus Stein“ veröffentlicht wurden, thematisieren eine soziale Außenseiterrolle, die Individualität des Einzelnen gegenüber der gesellschaftlichen Angst vor allem Besonderen. In „America! America!“ etwa beschreibt die Erzählerin anhand ihrer Einführung in eine amerikanische Studentenverbindung die kulturelle Assimilierung von Andersdenkenden in der amerikanischen Gesellschaft. Auch „Einführung“ handelt von erniedrigenden Aufnahmeritualen im amerikanischen Collegewesen, die die Hauptfigur erfolgreich verweigert. Traumatische Erfahrungen der unvermittelten Außenseiterrolle von Kindern deutscher Abstammung im Amerika des Zweiten Weltkriegs bilden den Hintergrund von „Superman“ und „Paula Browns neuer Schneeanzug“ und „Der Schatten“.

Andere Geschichten handeln vom Kampf um die Entfaltung weiblicher Kreativität in einer männlich dominierten Umgebung, etwa wenn in „Das Wunschkästchen“ die dunklen Alpträume einer Frau allmorgendlich gegenüber dem strahlend-bunten Nachtfantasien ihres Ehemanns nicht bestehen können, eine Konkurrenzsituation, der sie erst durch den Tod entkommen kann. Auch in „Johnny Panic“ und „Bibel der Träume“ sind es Träume, die durch die Wirklichkeit nicht zu beherrschen sind, und die Protagonistin der realen Welt mehr und mehr entfremden.

Tagebücher

Seit ihrem elften Lebensjahr führte Sylvia Plath Tagebuch. Die Tagebücher ab Juli 1950 wurden in unterschiedlichen Ausgaben von ihren Erben veröffentlicht, wobei die bislang bekannten Aufzeichnungen im November 1959 abbrechen; von den späteren Jahren existieren nur Fragmente. Im Vorwort der ersten Herausgabe ihrer Tagebücher 1982 bekannte Ted Hughes, den letzten Band der Tagebücher vernichtet zu haben, weil er „nicht wollte, dass ihre Kinder das je lesen müssten“. Ein anderer Band sei „verschwunden“.

Weitere Auslassungen dieser Ausgabe räumte die Herausgeberin Frances McCullough ein. Sie entsprangen der Rücksicht gegenüber denen, „die ihr Leben als Person in diesem Drama noch zu Ende leben müssen. Einige bösartige Spitzen wurden ausgelassen“, sowie aus Diskretion Passagen über „Sylvia Plaths Erotik, die ziemlich ausgeprägt war“. Erst im Jahr 2000 erschienen die „ungekürzten Tagebücher“. In dieser Ausgabe sind lediglich einige Namen abgekürzt sowie insgesamt 12 Sätze gestrichen. „Sylvia Plath war ein Mensch mit vielen Masken, sowohl in ihrem Privatleben, als auch in ihrem Schreiben.“ So leitete Ted Hughes die Tagebücher ein. Ein Teil dieser Masken seien Verteidigungsreflexe, andere bewusstes Ausprobieren verschiedener Posen und Stile. In ihren Tagebüchern habe sie versucht, den widersprüchlichen Identitäten ihr wirkliches Selbst gegenüberzustellen. Für Elisabeth Bronfen waren die Tagebücher ein Archiv der unterschiedlichsten Selbstentwürfe Plaths, die sie zu einer einheitlichen, stimmigen Form zu ordnen versuche, wobei stets eine reflektierende Stimme durchbreche, die die Widersprüche und Ambivalenzen kommentiere.

Im ersten Teil bis zu ihrem Suizidversuch stehe die Identitätssuche der jungen Sylvia im Mittelpunkt. Thematisiert werde immer wieder die einengende kulturelle Norm sowie die Unvereinbarkeit der hochgesteckten Erwartungen und ihres Selbstzweifels. Der zweite Teil der Tagebücher kreise vor allem um Ted Hughes, seine Idealisierung und Funktion als Doppelgänger des früh verstorbenen Vaters. Im dritten Teil beschreibe sie ihre Existenz als freie Schriftstellerin und die Versuche, sich von den prägenden Vorbildern zu lösen.

Die Briefe

Noch vor den Tagebüchern veröffentlichte ihre Mutter Aurelia Schober Plath 1975 Sylvia Plaths Briefe nach Hause, eine Sammlung von Briefen an verschiedene Familienmitglieder, vor allem an die Mutter. Mit der Veröffentlichung versuchte die Mutter dem Bild entgegenzutreten, das in „Ariel“ und der „Glasglocke“ über ihre Tochter und ihre familiären Konflikte bekannt geworden war, und der Öffentlichkeit stattdessen das Bild einer braven, unbeschwerten Tochter zu vermitteln, das Sylvia ihrer Mutter in den Briefen stets vorgespielt hatte.

Den Tagebüchern derselben Zeit gegenübergestellt wurden die Briefe solcherart zum Zeugnis, wie sehr sich Sylvia Plath äußerlich angepasst hatte, während sie in den Tagebüchern ihre soziale Entfremdung und den Verlust ihrer Identität beschrieb. Lotet sie in den Tagebüchern jedes Gefühl in aller Tiefe aus, zeichnen sich die Briefe durch größte emotionale Distanz aus. Gleichzeitig werde der unerschütterliche Optimismus, den ihre Mutter von ihr erwarte, für „Sivvy“, wie sie sich in den Briefen nannte, auch zum Rettungsanker gegen ihre psychischen Krisen.

Die Kritik ist bei der Bewertung des Werks von Sylvia Plath gespalten. Während die einen ihre Gedichte vor allem als Symptome der psychischen Konflikte der Dichterin lesen, betont besonders die feministische Kritik den repräsentativen Charakter von Sylvia Plaths Schicksal und versteht sie als Opfer patriarchalisch bestimmter Rollenvorstellungen. Der Hauptgrund für diesen Widerstreit besteht wohl darin, dass sich Plaths Texte schon ganz eindeutig mit dem befassen, was heute als „sexual politics“ bezeichnet wird.

Der Deutungskampf über Leben und Werk der Dichterin hat eine Menge von Biografien erzeugt, die unablässig ihre Briefe und Tagebücher obduzieren und Plaths Ehemann, den britischen Poet Laureate Ted Hughes und Plaths Mutter für den Selbstmord verantwortlich machen wollen. Sylvia Plath selbst ist zu einem literarischen Popstar geworden. Ihre Gedichte und die „Glasglocke“ sind ein Blick in Abgründe, Verachtung, Verrat, Krankheit der Seele. Aber sie sind darin auch eine Bejahung und Heiligung des Lebens. „Sie sind jene Kunstform der Einübung in den Schmerz durch Literatur, die, wenn man durch sie hindurch ist, einen das Helle wieder erkennen lässt“ (so Lutz Lichtenberger). Sylvia Plath wäre heute 90 Jahre alt geworden. Ihre Protagonistin Esther Greenwood lebt bis heute.

Foto: (c) Suhrkamp Verlag