Tonio Schachinger - Ivo, Till und Dolinar

Tonio Schachinger - Ivo, Till und Dolinar

Veröffentlicht am 30.04.2024

Ein Porträt von Heimo Mürzl.

Tonio Schachinger besitzt großes Einfühlungsvermögen und führt den Leser in seinen Romanen ebenso stimmig wie unterhaltsam in unbekannte und fremde Welten ein.

Antonio „Tonio“ Schachinger, geboren 1992 in New Delhi, Indien, und aufgewachsen in Nicaragua und Wien. Dort besuchte der Sohn einer Künstlerin und eines Diplomaten das Gymnasium Theresianum und studierte anschließend Germanistik an der Universität Wien und Sprachkunst an der Universität für Angewandte Kunst in Wien. Nachdem er schon mit seinem ersten Roman „Nicht wie ihr“ auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises stand, erhielt er 2023 für seinen zweiten Roman „Echtzeitalter“ den Deutschen Buchpreis.

Dass Tonio Schachinger nach nur zwei veröffentlichten Romanen bereits von Kritik und Lesern gewürdigt, mit Preisen bedacht und als Stimme seiner Generation gefeiert wird, erklärt sich schlüssig, wenn man seine zwei Romane gelesen hat. Nur wenige Autoren verfügen über so ein feines Sensorium für die „Codes“ und Phänomene der Gegenwart und besitzen so großes Einfühlungsvermögen wie Tonio Schachinger, um den Leser ebenso stimmig wie unterhaltsam in unbekannte und fremde Welten einzuführen.

Romane zu lesen bedeutet, sich in andere Leben einzufühlen, an fremden Schicksalen teilzuhaben und für die Dauer eines Romans mit anfangs Fremden zu leben und ihnen Seite für Seite näherzukommen. Wer sich auf einen Roman einlässt, lässt sich auf ein fremdes Leben ein, auch dann, wenn es sich bei den Romanfiguren nicht unbedingt um Sympathieträger handelt. Der Leser lebt einen Roman lang mit ihnen. Autoritäre und arrogante Klassenlehrer, verkannte Internatsschüler, verhaltensauffällige Profifußballer und halbseidene Spielerberater. Tonio Schachinger ist seinen Romanfiguren ein behutsamer Anwalt, ohne seine Hand immerzu schützend über sie zu halten. Schachingers Romanfiguren sind stets über ihr soziales, ökonomisches und mentales Verhältnis zur Welt zu begreifen und ihr Handeln wird von ihrem Erfahrungshorizont und ihrer Sehnsucht bestimmt.

DER KÄFIGKICKER IVO

„Wer keinen Bugatti hat, kann sich gar nicht vorstellen, wie angenehm Ivo gerade sitzt.“

Tonio Schachingers Debütroman „Nicht wie ihr“ gleicht einem unwiderstehlichen Solo auf der Schreibmaschine und gewährt dem Leser Einblick in das Leben eines jungen Profifußballers. Ein Leben zwischen Lifestyle, Leistungssport und Liebeskummer. Schachingers Kunstgriff, seinen Romanhelden mit einer personal-auktorialen Erzählstimme auszustatten, erhöht nicht nur den Unterhaltungswert, sondern verleiht der Geschichte von Ivo Trifunovic auch Glaubwürdigkeit.

Ivo, so will es sein Autor, hat es vom klassischen Käfigkicker bis in den goldenen Käfig eines englischen Premier-League-Vereins geschafft. Er spielt beim FC Everton eine ebenso wichtige Rolle wie im Zusammenspiel mit seinen Spielerkollegen David Alaba und Marco Arnautovic in der österreichischen Nationalmannschaft. Das virtuose Spiel mit real existierenden Personen (neben Alaba und Arnautovic haben auch Timo Werner, Leon Goretzka, Stefan Maierhofer, Didi Constantini und Peter Hackmair ihre „Gastauftritte“) macht einen Reiz dieses Romans aus. Das nicht minder virtuose Spiel mit Klischees und Fehleinschätzungen einen weiteren.

Mit unverwechselbarem Sprachsound, stimmigem Lokalkolorit und genauer Milieukenntnis – Schachinger stattet seinen in Wien-Floridsdorf aufgewachsenen Romanhelden mit einer authentisch-derben Sprache aus (Fut, Oida, blad, pudern, Hurenkinder, Tschusch, Pappn) – gelingt Tonio Schachinger ein „Fußballroman“, der sich auf das Leben abseits des grünen Rasens konzentriert. Dieser Roman gleicht einem unwiderstehlichen Solo auf der Schreibmaschine: Wie Schachinger seine holzschnittartige Symbolfigur Ivo Trifunovic literarisches Leben einhaucht und ebenso gekonnt wie höchst amüsant aus dem Käfigkicker mit Macho-Allüren einen komplexen Charakter mit Sinnkrisen entwickelt, begeisterte auch die Jury des Deutschen Buchpreises, die den Debütroman auf die Shortlist setzte. Die extreme Ambivalenz des Romanhelden macht ihn zugleich angreifbar wie sympathisch, liebenswürdig wie widersprüchlich, arrogant wie verletzlich. Ivo ist ein Familienmensch, der sich seiner Herkunft bewusst ist – wir erleben ihn aber auch als arroganten Fußballprofi, der Journalisten grundsätzlich für „vertrottelt“ hält und sie alle als „Medienfuzzis“ bezeichnet. Um seine Kinder kümmert er sich auf geradezu rührende Weise, fährt aber sehr gerne und stets mit überhöhter Geschwindigkeit eines seiner fünf Autos. Auch außereheliche Affären gehören für ihn zum Standardleben eines Fußballprofis.

Manchmal steht man im Leben rascher im Abseits als auf dem Fußballfeld – diese Erfahrung macht auch Ivo. Er wirkt in seinem einmal halbseidenen, einmal grobschlächtigen, dann wieder liebenswürdigen und einfühlsamen Auftreten wie ein repräsentativer Vertreter eines ganz eigenen Soziotops. Er zählt zu jenen, die es aus den proletarisch geprägten Fußballkäfigen in die goldenen Profikickerkäfige geschafft haben. Obwohl Schachinger seine Romanfiguren zum Teil sehr holzschnittartig mit vielen Klischees ausstattet – Ivos Frau Jessy ist blond, tätowiert und die Schönheitschirurgie ist ihr nicht fremd und Ivo selbst liebt neben seinen fünf Autos auch billig produzierte Amateurpornos –, gelingen ihm authentisch-einfühlsame Einblicke in das Innenleben eines Fußballprofis, dessen privilegiertes Dasein ihn nicht vor Burn-out-Attacken und Depressionsschüben schützt.

Der bekannte Satz von Albert Camus: „Alles, was ich über Moral und Verpflichtungen weiß, verdanke ich dem Fußball“ mag vielleicht ein wenig übertrieben klingen. Einen ebenso bekannten Friedrich-Hebbel-Satz kann man aber gerne ein wenig abwandeln und davon sprechen, dass die große Welt in der kleinen Fußball-Welt ihre Probe hält. Das weiß auch Tonio Schachinger und flicht in seinen Fußballer-Roman allgemeingültige Themen wie Migrationshintergrund, Identitäts- und Integrationsfragen, Rassismus, Geschlechterbilder, Framing und Selbstoptimierung auf kluge und unterhaltende Weise ein.

Dass das internationale Fußballgeschäft das Paradebeispiel für sämtliche Fehlentwicklungen und Auswüchse des Kapitalismus darstellt, wird ebenso auf nonchalante Weise angesprochen wie die manipulative und den Status quo festigende Rolle der (Mainstream-)Medien. Klug, witzig, frech, politisch unkorrekt und immer ohne erhobenen Zeigefinger werden auch die Themen Migration, Integration und Alltagsrassismus stimmig in den Erzählfluss integriert: „Und überhaupt, wenn je ein Land dankbar für seine Ausländer sein sollte, dann Österreich. Man muss ja nur nach Deutschland schauen, um zu sehen, wie Österreich rundherum geworden wäre, wenn rundherum nicht Tschechn, Jugos und Ungarn gelebt hätten, sondern andere Kartoffeln. Es gäbe keine gescheiten Knödel, keine schönen Leute und keine gute Musik. Österreich ohne Migranten wäre genauso fad wie Deutschland.“ Tonio Schachinger gelingt in seinem Debütroman das große Kunststück, scharfsichtige Beobachtung und hellsichtige Analyse in einen lese(r)freundlichen und vergnüglichen Roman mit viel authentischem Schmäh und treffsicherem Witz zu verpacken.

DER ONLINE-GAMER TILL

„Er lässt sich in sein letztes Schuljahr fallen wie in einen leeren Pool.“ Wie in seinem Debütroman „Nicht wie ihr“, wo ein junger Profifußballer im Zentrum des Romangeschehens stand, beweist Tonio Schachinger auch in seinem zweiten Roman „Echtzeitalter“, dass er großes Einfühlungsvermögen besitzt und es versteht, den Leser seiner Romane in ihm fremde und unbekannte Lebenswelten eintauchen zu lassen. In „Echtzeitalter“ ist es die Welt der Computerspiele und Online-Gamer. Das Marianum, ein elitäres und traditionsreiches Wiener Internat, untergebracht in der ehemaligen Sommerresidenz der Habsburger, dient Schachinger als ideale Kulisse für seinen Coming-of-Age-Roman. Schachinger, der selbst Schüler am Theresianum war, gelingt es auf ebenso virtuose wie unterhaltsame Weise unterschiedlichste Erzählebenen miteinander zu verknüpfen und so einen genau beobachtenden, klug analysierenden und scharf urteilenden Blick auf Bildungspolitik, Standesdünkel, Autoritätshörigkeit und gesellschaftliches Elitedenken zu werfen, wie auch auf die zunehmende Digitalisierung aller Lebensrealitäten und den damit einhergehenden gesellschaftlichen Wandel.

Im Marianum, der „berühmtesten Privatschule des Landes“, werden die Kinder der sogenannten besseren Gesellschaft unterrichtet, gedrillt und zu „funktionierenden und brauchbaren Bürgern“ geformt. Professor Dolinar, Klassenvorstand und Deutschlehrer mit Kärntner Zungenschlag und überzeugter Anhänger der schwarzen Pädagogik, „der wie Lord Voldemort, immer schwarz trägt und mit seinen weiten Lodenmänteln aussieht wie eine Fledermaus“, bestimmt mit Demütigungen, Angst und Strafen den Alltag seiner Schüler.

Die Literatur und deren klassischen Kanon – Stichwort „Reclam-Gelb“ – nimmt er sehr ernst und überholte Lehr- und Zuchtmethoden sind ihm nicht fremd. „Der Dolinar verbietet seinen Schülern, Freifächer und unverbindliche Übungen zu belegen, er verbietet ihnen den Kontakt zu anderen Klassen, verbietet ihren Eltern, sich in seine Erziehung einzumischen, er verbietet jede schlechte Leistung, in Deutsch oder Französisch ebenso wie in irgendeinem der anderen Fächer, und jegliche Disziplinlosigkeit, jedes ausgebliebene Grüßen auf dem Gang, jedes zu langsame Aufstehen, jedes zu rasche Gehen wird bestraft.“

Tonio Schachinger erzählt also die bekannte Geschichte von traditionellen und längst nicht mehr zeitgemäßen Strukturen, von despotischen Lehrern und unbändiger Freiheitslust, von aufkeimendem Widerspruchsgeist und den Irrungen und Wirrungen des Erwachsenwerdens zwischen Klassikerlektüre und Gaming-Gegenwelt. Wie Schachinger diese Geschichte aber erzählt, macht den Roman „Echtzeitalter“ zu etwas Besonderem. Schachinger ist mit jenem Gespür ausgestattet, das nur wenige Autoren besitzen. Er fängt das emotionale und intellektuelle Frühlingserwachen glaubhaft und spürbar ein und evoziert so eine Sogwirkung, die einen fasziniert weiterlesen lässt, weil man mit Freude und Begeisterung diesen liberalen Geist einatmen will, der hier durch die Buchseiten weht.

Federleicht und unangestrengt fließen die Sätze in diesem Roman – auf 360 Buchseiten erzählt Schachinger davon, wie es Till über die Gaming-Gegenwelt (seine große Leidenschaft sind Computerspiele wie das Echtzeit-Strategiespiel „Age of Empires 2“) und mit Hilfe von zwei selbstbewussten und „erfrischend unangepassten“ Mädchen gelingt, zu sich selbst zu finden und ohne bleibende Schäden erwachsen zu werden. Feli, eigentlich Felicite Exner-Diouf, mit ihrer widerborstig-rebellischen Haltung gegenüber Autoritäten und Konformität, ihrem Wissen um gesellschaftliche Verflechtungen und opportunistische Gepflogenheiten und ihrem kommunikativen Talent, das sie geschickt einzusetzen vermag, ist eine Schlüsselfigur in diesem Coming-of-Age-Roman. Während Till als jüngster Top-10-Spieler in Internet-Foren weltweit verehrt wird und zu Gaming-Wettbewerben nach Deutschland und China reist, schafft es seine Freundin Feli mit literarischen Versuchen zu Lokalruhm zu gelangen. Till und Feli eint nicht nur das Wissen um die Schwierigkeiten und Fatalitäten des Erwachsenwerdens. Es eint sie auch der Widerstand gegen eine Welt, die völlig funktionalistisch, auf Effizienz bedacht und allein von der Vernunft determiniert zu sein scheint.

Tonio Schachinger gelingt es in seinem Roman überzeugend vorzuführen, dass sich Ungehorsam, der Aufstand gegen die Tradition und Konformität tatsächlich lohnt und in gewisser Weise unumgänglich ist, weil Moral und moralisches Handeln immer wieder neu zur Disposition stehen. Schachinger beherrscht die große Kunst, Form und Inhalt stimmig zur Deckung zu bringen und erzählt den Konflikt zwischen den Generationen auch als einen zwischen analoger und digitaler Welt: „Tills Eltern haben selbst nie irgendein Computerspiel genug verstanden, um Spaß daran zu haben, oder nie genug Spaß daran entwickelt, um es verstehen zu wollen. Sie sprechen über Computerspiele, wie jemand, der nicht lesen kann, über Bücher spricht, und ihre Sorgen unterscheiden sich kaum von den Sorgen derjenigen, die zur vorletzten Jahrhundertwende ins Kino gingen und fürchteten, der Zug könne aus der Leinwand über sie hinwegrollen.“ Schachinger verzichtet aber darauf, sich auf eine der zwei Wahrnehmungswelten zu schlagen. Vielmehr löst er die Gegensätze mitunter spielerisch und humorvoll auf – so schafft es Tills Mutter mit Hilfe des Handyspiels „Candy Crush“ ihre Schlafstörungen in den Griff zu bekommen.

Tonio Schachinger erzählt in seinen Romanen immer wieder von diesen flüchtigen, funkelnden Momenten, die sich ewig eingraben in die Erinnerung. Von jenen Momenten, für die es sich tatsächlich zu kämpfen und zu leben lohnt. Im Abschlussjahr sitzt Till mit seiner Freundin in der vom verstorbenen Vater geerbten Wohnung statt im Klassenzimmer, kann schon am frühen Morgen am PC in die Welt von „Age of Empires 2“ eintauchen und es sich leisten, bei der Deutsch-Matura ein leeres Blatt abzugeben, da seine Jahresnote ihm bereits das Bestehen der Reifeprüfung sichert.

Foto: (c) Anna Breit