Twardoch, Szczepan - Kälte

Twardoch, Szczepan - Kälte

Veröffentlicht am 17.07.2024

Roman aus dem hohen Norden um die Verrohung der Menschen.

Der Titel ist eine Verniedlichung. Im neuen Roman des schlesischen Schriftstellers Szczepan Twardoch herrscht durchdringende Eiseskälte. Einerseits ist dies den Schauplätzen der Geschichte geschuldet, die sich in Spitzbergen und in Russland nördlich des Polarkeises befinden. Andererseits geht es um die Verrohung der Menschen, die durch Krieg, Lagerhaft, Hunger und Angst für die, die mit ihnen leben, keine Zuneigung mehr aufbringen können.

Erzählt wird dies in Form eines Tagebuchs (wobei dem Verfasser die Wahrscheinlichkeit seines Sterbens in der kalten Einöde und also die Unwahrscheinlichkeit einer zukünftigen Leserin, eines Lesers klar ist). Twardoch erschafft eine zweite Zeitebene in der Gegenwart. Ein Schriftsteller, der denselben Namen trägt wie er, fährt im Jahr 2019 nach Spitzbergen und trifft in einem Hotel in der ehemaligen Bergarbeiterstadt Pyramiden auf eine ältere, rätselhafte Frau. Sie ist seit Jahrzehnten mit ihrer Segeljacht auf den Meeren unterwegs und fragt den jungen Mann, ob er mit ihr kommen wolle.

Nachdem sie ihm auf dieser Reise immer mehr vertrauen kann, drückt sie ihm zwei Notizbücher von einem gewissen Konrad Widuch, der aus demselben schlesischen Ort wie Twardoch stammt, in die Hand. Widuch, Ende des 19. Jahrhunderts geboren, diente in der Armee von Kaiser Wilhelm II., war 1918 am Aufstand der Kieler Matrosen beteiligt und Mitglied im Spartakusbund.

Er geht nach Russland, um für den Bolschewismus zu kämpfen. Mitten im Bürgerkrieg lernt er Sofie Moen, ebenfalls eine überzeugte Kommunistin, kennen. Doch dann wendet sich Stalin gegen die alten Bolschewiken und Sofie und Konrad ziehen zuerst nach Murmansk. Sofie flüchtet dann mit den Kindern übers Meer Richtung Finnland und bleibt. Er wird verhaftet und kommt nach einem Verhör und grausamer Folter in ein Lager, dessen Namen er nicht nennen will, wie er immer wieder betont. Schließlich erwähnt er ihn dann doch: Dalstroi, einer der größten Lagerkomplexe der Sowjetunion im Nordosten Sibiriens.

Aus den Schrecken des Gulag kann er sich mit äußerster Härte befreien und steht dann vor dem Nichts. In den Weiten der Taiga, einer schönen sowie tödlichen Welt, wird er zusammen mit der Russin Ljubow und dem mitgeflohenen Gabaidze von den Ljaudis gefunden. Bei dem archaischen Volk entdeckt er ein fremdes Leben, die Stille, eine Welt mit unbegreiflichen Göttern. Doch bald sind sie wieder auf der Flucht.

Szczepan Twardoch berichtet spannend vom Kampf eines Mannes, der nichts zu verlieren hat, lässt ihn Grausamkeiten und Perversionen, unglaubliche Entbehrungen und auch Kannibalismus (von anderen, er weigert sich, auf Menschenfleisch zurückzugreifen) schildern, die er entweder selbst begeht, sieht oder rächt. Er schickt seinen Helden auf eine wahrlich abenteuerliche Reise, die es mit jenen von Jack London und anderen durchaus aufnehmen kann. Russland, der hohe Norden, das 20. Jahrhundert in all seinen Abgründen prägen seinen Weg.

Twardoch, der sich im gegenwärtigen Krieg für die Ukraine gegen Russland engagiert und unter anderem persönlich mit seinem Auto Drohnen von Polen ins Land bringt, hat mit „Kälte“ auch durchaus eine Parabel auf die Gegenwart vorgelegt. Russlands Angriff auf die Ukraine und die Bedrohung, die Putin für Europa darstellt, geistert im Hintergrund des Romans. Widuch sagt einmal: „Denn wenn Russland kommt, dann kann eine Siedlung allein sich nicht verteidigen, ihr bleibt nur die Flucht. Ihr seid nur so lange sicher, wie Russland nichts von euch weiß.“

Szczepan Twardoch, einer der wichtigsten europäischen Autoren unserer Zeit, hat mit „Cholod“ (deutsch: „Kälte“) hat einen großen, kraftvollen Roman geschrieben.
Kirsten Fischer

Twardoch, Szczepan - Kälte
Roman. Berlin: Rowohlt 2024. 437 S. - fest geb. : € 27,50 (DR) ISBN 978-3-7371-0188-2 Aus dem Poln. von Olaf Kühl

Für meine Bücherei kaufen Als Privatperson kaufen