Uwe Timm - Der Verrückte in den Dünen

Uwe Timm - Der Verrückte in den Dünen

Veröffentlicht am 16.11.2023

Robert Leiner über den deutschen Romancier.

Die intensive Zeit der westdeutschen Studentenrevolte 1968/69 durchzieht als Lebensthema neben biographischen Nachforschungen fast alle Romane und Erzählungen von Uwe Timm. Den Aufbruch Ende der sechziger Jahre erlebte er als Student aktiv mit. Er zählt zu den wichtigsten Vertretern der 68er-Generation und die Aufarbeitung dieser Zeit zieht sich durch sein gesamtes Werk.

In einem 2020 erschienenen Essayband („Der Verrückte in den Dünen. Über Utopie und Literatur“) umkreist Uwe Timm sein Lebensthema Utopien, Modelle eines gerechteren, von Leid befreiten Zusammenlebens, des größeren Glücks in der Gemeinschaft. „Die Literatur, so schreibt er, „bringt in der Sprache solche Gegenwelten, die einen nicht realen Ort haben, hervor, insofern ist sie utopisch.“

DAS MODELL UTOPIE

In der realen Welt der Politik ist die Gefahr sehr groß, dass diese Utopien autoritär und totalitär verwirklicht werden wollen, und so „trägt das Modell Utopia die Dystopie schon in sich“. Zuletzt stellt er in „Ikarien“ (2017), dem Roman über den Eugeniker Alfred Ploetz, an dem er jahrzehntelang schrieb, in wohlüberlegter Erzählkonstruktion einen früheren Gefährten namens Wagner gegenüber. Die Studienfreunde reisen 1884 nach Amerika, um in einer Kommune in Iowa die Realisierung des utopischen Romans „Reise nach Ikarien“ des französischen Sozialisten Étienne Cabet zu beobachten. Sie werden enttäuscht, denn die Kommunarden sind schnell zerstritten, abgearbeitet, überaltert. Aus diesem Erlebnis ziehen die Männer unterschiedliche Schlüsse: Ploetz hält am Gedanken fest, die „Ungerechtigkeit in der Natur des Einzelnen sei zu korrigieren“ und wird zum Grundlagenforscher der Rassenpolitik des NS. Wagner bleibt Sozialist, erlebt die Münchner Räterepublik, wird von den Nazis verfolgt und gefoltert. Die Frage nach dem Umkippen der Utopien stellt sich Uwe Timm nicht nur als gesellschaftliches Verhängnis, sondern immer auch dem Einzelnen: Wie kann es sein, dass der eine bei den Verbrechern landet und der andere integer bleibt? Dieses existenzielle Thema der Kinder der Nachkriegszeit ist auch eine wichtige Frage der sogenannten 68er-Studentengeneration.

Geboren wird Uwe Timm am 30. März 1940, mitten im Krieg, in Hamburg als drittes Kind des Ehepaares Hans und Anna Timm. Als er drei Jahre alt ist, wird die Familie ausgebombt und flüchtet mit Sack und Pack in die Provinz nach Coburg zu einem Großonkel. Im Spätsommer 1945 kehrten sie nach Hamburg zurück, wo der aus dem Krieg heimgekehrte Vater eine Kürschnerei eröffnete und der Junge nach dem Besuch der Volksschule eine Kürschnerlehre in der Firma Levermann absolvierte. Als der Vater plötzlich stirbt und das Pelzgeschäft hoch verschuldet in die Pleite schlittert, übernahm der 18-Jährige 1958 das hoch verschuldete Pelzgeschäft und brachte binnen vier Jahren alles ins Lot. Nach der Sanierung des Geschäftes will er nur noch weg aus Hamburg und besuchte ab 1961 das Braunschweig-Kolleg.. Hier lernte er Benno Ohnesorg kennen. Dieser war Herausgeber der Zeitschrift „teils-teils“. In der Nr. 1 (weitere Nummern folgten nicht) erschienen Uwe Timms erste Gedichte. 1963 machte er das Abitur. Gemeinsam mit seiner Freundin Jutta Kosjek (sie wurde im Mai 1964 die Mutter seiner ersten Tochter Katharina) ging er nach München, um Philosophie und Germanistik zu studieren.

Nach München zog es ihn, da dort das Lebensgefühl ein ganz anderes war als in Norddeutschland, erinnerte er sich in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung: „Früher gab es in Hamburg nur einen einzigen Platz, wo man draußen saß. Am Alsterpavillon nahmen die feinen Damen immer ihren Kaffee. Sie hatten diese Topfhüte auf und Perlenketten.“ 1966 setzte er sein Studium an der Sorbonne in Paris fort. Hier lernte er Alice Dermigny und den Mathematiker Diederich Hinrichsen kennen, mit dem er ein Theaterstück schrieb, für das sie jedoch keinen Verlag fanden. In Paris erreichte Timm im Juni 1967 die Nachricht vom Tod seines Freundes Benno Ohnesorg.

Im September 1967 kehrte er nach München zurück und engagierte sich zwischen 1967 und 1969 politisch im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS). Er schrieb Agitprop-Lyrik und Straßentheaterstücke und beteiligte sich an der Besetzung der Münchener Universität. Die Zeit der westdeutschen Studentenrevolte 1968/69 durchzieht als Lebensthema fast alle seine Romane und Erzählungen. Sein literarisches Debüt lieferte er Anfang der 1970er Jahre mit einem schmalen Lyrikband („Widersprüche“) und ein paar Hörspielen. 1969 heiratete er die aus Villa Gesell (Argentinien) stammende und spätere Übersetzerin Dagmar Ploetz (sie übersetzte u.a. Gabriel García Márquez), mit der er drei Kinder, einen Sohn und zwei Töchter hat. Seitdem arbeitete er als freier Schriftsteller. Von 1972 bis 1981 wirkte er als Herausgeber der AutorenEdition im Bertelsmann Verlag und wechselte nach deren Auflösung zum Verlag Kiepenheuer & Witsch. 1973 wurde er Mitglied der DKP, konnte sich aber mit deren Zielen nicht vollständig identifizieren, sodass er 1981 wieder austrat, u.a. wegen der unkritischen Haltung der Partei gegenüber der DDR. Im selben Jahr siedelte er für zwei Jahre nach Rom über. Später lebte er mit seiner Familie in München und Berlin.

Seinen ersten Roman „Heißer Sommer“ schrieb er 1974 und erlangte damit bereits große Aufmerksamkeit. Der Roman zählt bis heute zu den wenigen literarischen Zeugnissen der 68er-Studentenrevolte. Die Hauptfigur des Romans, der mit dem Autor großteils identische Germanistikstudent Ullrich Krause, durchläuft alle Phasen vom spontanen Aktionismus bis hin zur streng organisierten Parteiarbeit, innerlich gestützt durch einen politischen Bewusstseinswandel, nachdem er die üblichen Drogen- und Sexexperimente dieser Zeit hinter sich gebracht hat. In der Gemeinschaft entwickelt sich Ullrichs innere Unruhe und Perspektivlosigkeit zu einem neuen Gefühl der Stärke. Er wird ernüchtert in der Konfrontation mit der Staatsmacht, durch die Enttäuschung über den sektiererischen Dogmatismus einiger Mitstreiter („lauter vertrocknete Seminarmarxisten“) und durch die relativ geringe Resonanz bei den Menschen, die man eigentlich „befreien“ wollte. Sein Lernprozess wird am Romanende noch abgerundet mit der Perspektive des „langen Marsches durch die Institutionen“.

MORENGA

In seinem historischen Roman „Morenga“ (1978) beleuchtet Uwe Timm ein düsteres, weithin verdrängtes Kapitel deutscher Geschichte, nämlich den Aufstand der Hereros und Hottentotten in Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia, zur Zeit der wilhelminischen Kolonialpolitik und seine blutige Niederschlagung durch deutsches und englisches Militär. Der großartige postkolonial-historische Roman in Form einer Collage aus fiktionaler Erzählung, historischen Dokumenten und authentischen wie erfundenen Berichten hat zu Timms wachsender Popularität beigetragen. Es ist eine multiperspektivische Auseinandersetzung mit der deutschen Kolonialgeschichte in Südwestafrika von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1908. Nicht Jakob Morenga, der Führer der Nama, steht im Zentrum der Handlung, sondern der fiktive Oberveterinär Johannes Gottschalk, der im Oktober 1904 als freiwilliges Mitglied der deutschen Schutztruppen in Deutsch-Südwestafrika ankommt. 34 Jahre ist der Kaufmannssohn aus Glückstadt alt, der mit dem Duft der Gewürze aus aller Welt aufwuchs und sich nun um Truppenpferde und erbeutete Rinderherden kümmern soll. Er träumt von einer eigenen Farm.

Was ihn, Kind seiner Zeit und doch von Beginn an mit mehr Empathie für die Eingeborenen ausgerüstet als die meisten seiner Kameraden, erwartet, sind die soeben besiegten Herero, die in Konzentrationslagern an Ruhr, Typhus und Hunger sterben und von ehemals 80.000 auf 15.130 dezimiert werden, sowie ein bevorstehender Guerrillakampf gegen die Nama, von den Buren einst Hottentotten genannt, unter ihren Anführern Jakob Morenga und Hendrik Witbooi. Gottschalks steigende Zweifel, Ergebnis seiner Beschäftigung mit der Nama-Sprache und Kontakten zu Einheimischen, sein zunehmendes Außenseitertum und schließlich seine Überlegungen zum Desertieren oder Überlaufen sind der rote Faden der Romanhandlung.

Teile des Buches bestehen aus Gefechtsberichten, Akten und Zeitungsberichten und sind an Zynismus teilweise kaum zu überbieten. Es sind Schlachtberichte, Dokumente zur Landeskunde, die bis in die Zeit der ersten idealistischen Missionare zurückreichen, von Händlern, die in den bis dahin selbstgenügsamen Nama neue Bedürfnisse weckten und sie zur Begleichung ihrer Schulden Überfälle auf die Rinderherden der Herero unternehmen ließen, von Forschern, Landvermessern und schließlich Soldaten. „Morenga“ ist ein Lehrstück über die deutsche Kolonialgeschichte und den ersten Völkermord der Neuzeit, ein Drama ohne Helden, in dem Uwe Timm wie immer auf platte Parolen verzichtet.

KERBELS FLUCHT

1980 wird „Kerbels Flucht“ als sein damals bester Roman in den deutschen Feuilletons gefeiert. Es ist das Porträt einer Generation ohne Hoffnung, geschrieben in einer knappen Sprache. Es ist Kerbels Tagebuch über eine zu Ende gehende Liebe. Timm arrangiert darin meisterhaft die Beobachtungen seines Helden und verfällt nie in eine Behauptungsprosa, sondern geht Personen, Situationen und gesellschaftliche Missstände an. Christian Kerbel, 29, einst politisch engagierter Germanistikstudent, schlägt sich als Taxifahrer in München durch. Er, der einst die Welt verbessern wollte, muss sich nun den „Gesprächsmüll” der Fahrgäste anhören. Und wenn er in seine WG kommt, wartet nicht mal mehr Freundin Karin, denn er selbst hat sie zum Flughafen gefahren, damit sie zu einem anderen kann. Nun wird er mit dem Verlust nicht fertig. Auf der Flucht vor der Wirklichkeit findet er nirgends mehr Zugehörigkeit. Die Spirale dreht sich weiter, die Ereignisse eskalieren. Bei einer Polizeikontrolle im Zuge der Terroristenfahndung provoziert Kerbel seine Erschießung – sein Freitod aber setzt keine Signale, „alles blieb ruhig“.

Große Erfolge feierte Uwe Timm Anfang der 1990er Jahre mit der Novelle „Die Entdeckung der Currywurst„ (1993), die in mehr als 20 Sprachen übersetzt wurde. Das Werk wurde 2008 verfilmt. Es ist eine wunderbare Liebesgeschichte im Hamburg der letzten Kriegstage. In Erinnerung an seine Kindheit macht sich der Erzähler auf die Suche nach der ehemaligen Besitzerin einer Imbissbude am Hamburger Großneumarkt. Er findet die hochbetagte Lena Brücker in einem Altersheim und erfährt die Geschichte ihrer „schönsten Jahre“ und wie es zur Entdeckung der Currywurst kam. Das Buch setzt sich mit dem Überlebenskampf in den letzten Kriegstagen im Nazideutschland des Jahres 1945 auseinander. Die Suche nach dem Geheimrezept für die köstliche Currywurst führt nach Hamburg zur Standfrau Lena Brücker, die dem Erzähler erstmal eine andere Geschichte auftischt. Kurz bevor Hamburg Ende April 1945 von den Briten erobert wurde, nahm Lena einen Deserteur, den jungen Marinesoldaten Bremer, bei sich auf und versteckte ihn unter Lebensgefahr. Sie verschwieg ihm sogar das Kriegsende, um die kleine Idylle nicht zu gefährden, doch irgendwann hatten die Lügen ein Ende. Ihre Erinnerungen schweifen in viele kleine Episoden ab. 2008 sorgt die Kinoversion von Ulla Wagner mit Barbara Sukowa und Alexander Khuon in den Hauptrollen noch einmal für gute Auflagenerfolge von Timms Bücher. In mehr als 20 Sprachen wurde es übersetzt. Und bei jeder Lesung, erzählt Timm gern in Interviews, musste er natürlich eine regionale Variante des deutschen Imbissbuden-Klassikers probieren.

2001 erschien mit dem Roman „Rot“ der letzter Teil der 68er-Trilogie. In ihm wird von Thomas Linde erzählt und seiner Liebesaffäre mit der Lichtdesignerin Iris. Thomas Linde schwebt. Etwas ist anders, aber er weiß nicht genau, was. In wenigen Sekunden wird er es wissen, aber diese kurze Zeitspanne ist erfüllt von einem ganzen Leben, mehr als einem halben Jahrhundert, von Geschichten, Erinnerungen, Begegnungen, Bildern und Gedanken. Er ist Jazzkritiker und Beerdigungsredner, schreibt an einer Arbeit über die Farbe Rot, und er hat eine Geliebte, die zwanzig Jahre jüngere Lichtdesignerin Iris, die ihm etwas zu sagen hat. Linde bereitet die Rede auf Aschenberger vor, einen ehemaligen Kampfgefährten von 67/68, als die Welt eine andere war und eine andere werden sollte. Zwischen Aschenbergers Nachlass-Papieren findet er Sprengstoff, dafür gedacht, die Siegessäule in die Luft zu jagen. Es ist ein Roman über die Hoffnungen und Wünsche der 68er, die Farbe Rot, von Lebensläufen und ihren Geheimnissen, von den Utopien und Verbrechen unserer Geschichte und von der Kostbarkeit des Lebens.

AM BEISPIEL MEINES BRUDERS

2003 erschien die autobiografische Erzählung „Am Beispiel meines Bruders“, die eine allgemeine Diskussion über die deutsche Erinnerungskultur und den Nationalsozialismus auslöste. Darin berichtet Timm von seiner Familie und ihrem Umgang mit dem Tod seines 16 Jahre älteren Bruders, der als Mitglied der Waffen-SS am Zweiten Weltkrieg teilnahm. Die Familie Timm lebt zur Zeit des Zweiten Weltkriegs in Hamburg. Sie haben drei Kinder: Eine Tochter namens Hanne Lore, den zwei Jahre jüngeren Karl-Heinz und den Nachzügler Uwe, der 18 Jahre jünger als seine Schwester ist. Als Karl-Heinz 18 wird, meldet er sich 1942 freiwillig zur SS und tritt deren Eliteeinheit, der Totenkopf-Division bei. Als er an die Ostfront geschickt wird, führt er dort verbotenerweise ein Tagebuch, in dem er seine Erlebnisse aufzeichnet. Nach einem halben Jahr Kriegseinsatz wird er schwer verwundet und stirbt einen Monat später im Oktober 1943.

Der Vater hatte im Ersten Weltkrieg als Soldat gedient, sich nach Kriegsende einem Freikorps angeschlossen und im Baltikum gekämpft. Durch die Mutter, die ihren Sohn nicht vergessen kann, und den Vater, der ihn nicht vergessen will, überschattet der stets anwesende und abwesende Bruder Uwes Kindheit. Nach dem Tod der Eltern und der Schwester versucht er seinem Bruder über das Tagebuch und aufbewahrte Feldpostbriefe näherzukommen. Indem er über ihn zu schreiben beginnt, sucht er Antworten auf seine Fragen. Die persönliche Erfahrung wird solcherart zum Ausgangspunkt der Frage nach der generellen Verarbeitung der NS-Vergangenheit in der Nachkriegszeit.

Mit der autobiografischen Erzählung „Der Freund und der Fremde“ (2005), über seine Freundschaft zu dem 1967 von der Polizei erschossenen Studenten Benno Ohnesorg, erhält Uwe Timm als Schriftsteller auch international Beachtung. Eindrucksvoll schildert er darin seine Reflexionen, als in Berlin die tödlichen Schüsse fielen und verarbeitet Erinnerungen an seine Zeit im Braunschweig-Kolleg Anfang der 1960er Jahre, als er zusammen mit Benno Ohnesorg das Abitur auf dem Zweiten Bildungsweg nachholte. Er schildert Ohnesorg dabei als eigenwilligen, zurückhaltenden, auf eine stille Art entschlossenen Menschen, der malte und Gedichte schrieb, die Werke der französischen Moderne las und zu einem der ersten Leser von Uwe Timms Werken wurde. Bald verband sie eine Freundschaft. Bei seiner anschließenden Studienzeit in München und Paris verloren sie sich aus den Augen, und Timm erfuhr in Paris von seinem Tod. Schon damals wollte er über den Schulfreund, dessen skandalöser Tod zum Fanal der Studentenbewegung wurde, unbedingt schreiben. Aber es gelang nicht, auch ein zweiter Versuch Jahre später scheiterte. Es blieb aber der Vorsatz, den er nahezu als Verpflichtung empfand, über ihn zu schreiben: „Ein Erzählen, das nur gelingen konnte – und diese Einsicht musste erst wachsen –, wenn ich auch über mich erzählte“.

Wie in „Am Beispiel meines Bruders“ nimmt er diesen Umweg über das eigene Ich und spürt nach mehr als vierzig Jahren der kurzen und eigenartig kühlen, aber intensiven und geistig engen Beziehung zu seinem Jugendfreund und Klassenkameraden nach, der inzwischen in die Geschichtsbücher eingegangen ist. Mehr noch als über Benno Ohnesorg und die Freundschaft der Beiden, erfahren wir über den jungen Uwe Timm, der nach dem frühen Tod des Vaters mit 18 Jahren dessen Kürschnerbetrieb übernehmen muss, aber eigentlich unbedingt Schriftsteller werden will. Im Rahmen seiner Arbeit an dieser Erzählung recherchierte er wie ein Journalist, blieb in seinem Werk aber ganz Dichter. Er sprach unter anderen mit Benno Ohnesorgs Bruder Willibald und Sohn Lukas, der seinen Vater nie kennengelernt hat. Entstanden ist keine chronologische Erzählung, sondern ein geschickt komponiertes Erinnerungsmosaik von Fragmenten und Anekdoten, die ein lebendiges Bild von der Jugend in den 1960er Jahren zeichnen, das den Bildungshunger thematisiert, das jugendlich-idealistische Streben nach eigenen Texten, Gedichten und Werken und das Interesse an Kunst, Literatur und Philosophie.

In dem Roman „Vogelweide“ (2013) erzählt Uwe Timm von der Macht des Begehrens, von den geheimnisvollen Spielregeln des Lebens und von der Kunst des Abschieds. Ein Mann hat alles verloren, seine Freundin, seine Geliebte, seinen Beruf, seine Wohnung, er hat einen Bankrott hinter sich und ist hoch verschuldet. Nun lebt er für eine Weile ganz allein auf einer Insel in der Elbmündung, versieht den Dienst als Vogelwart. Ein geradezu eremitisches Dasein, das durch einen Anruf durcheinandergebracht wird. Anna kündigt ihren Besuch an, eben jene Anna, die vor sechs Jahren vor ihm nach New York geflohen ist und zuvor sein Leben komplett aus den Angeln gehoben hat. Während Eschenbach sich auf das Wiedersehen mit ihr vorbereitet, Alltagsritualen folgt, Vögel zählt und Strandgut sammelt, besuchen ihn die Geister der Vergangenheit und es entfaltet sich die Geschichte von Eschenbach, Selma, Anna und Ewald. Es ist die Geschichte von zwei Paaren, die glücklich miteinander waren und es nicht bleiben konnten, als Eschenbachs große, verbotene, richtige und falsche Leidenschaft für Anna entbrannte. Es entsteht ein konturscharfes Bild unserer Gegenwart, in der die Partnerwahl einerseits von Optimierungsstrategien, andererseits von entfesselter Irrationalität geleitet wird und immer auf dem Prüfstand steht.

ALLE MEINE GEISTER

In seinem neuen Roman „Alle meine Geister“ (2023) erzählt Uwe Timm schließlich von seinen Lehrjahren als Kürschner im Hamburg der 50er Jahre. Er schildert kuriose Erlebnisse in seinem Beruf und aus der Welt der Mode, besondere Freundschaften und schreibt von den Büchern, die sein Leben verändert haben. Der noch 14-jährige Uwe wird 1955 in Hamburg von seinem Vater, dem Inhaber eines Pelzgeschäfts, in die Kürschnerlehre gegeben. Im Takt der Stechuhren lernt der junge Mann die kreative Präzision, die das heute fast ausgestorbene Handwerk erfordert, schult den Blick für das Material, die Kundinnen, die Tücken und Geheimnisse dieser Kunst. Er lauscht den Geschichten der Kollegen, schließt Freundschaften, bekommt Bücher empfohlen, entdeckt die Stadt und den Jazz. Der Lehrling, der vom Schreiben träumt, liest heimlich im Sortierzimmer Salinger und Camus, begleitet den „roten Erik“ auf die Reeperbahn, erkundet mit dem Kollegen Johnny-Look, reichlich schüchtern noch, die Liebe, erhält von Meister Kruse eine politische Einführung und streitet sich nun umso intensiver mit dem Vater über die NS-Zeit. Inzwischen ist auf dem Pelzmarkt ein Preiskampf ausgebrochen, das Kürschnergeschäft der Familie floriert nicht mehr, und als der Vater plötzlich an einem Herzinfarkt stirbt, muss der 18-Jährige ein völlig überschuldetes Geschäft sanieren. Die harte Arbeit und die großen Sorgen bringen ihn nicht ab von seiner Vorstellung eines ganz anderen Lebens. Es ist ein Buch der Erinnerungen und des Aufbruchs, ein sprechendes Zeitbild, ein Initiationsroman der Liebe, des Lesens, des Arbeitens und Träumens.

Mehrere Bücher von Uwe Timm wurden erfolgreich verfilmt. Er selbst schrieb auch Drehbücher für zeitgeschichtliche TV-Produktionen (etwa „Die Bubi Scholz Story“). Doch sein größter Erfolg ist ein Kinderbuch: Für den Roman „Rennschwein Rudi Rüssel“ bekommt er den Deutschen Jugendliteraturpreis und der gleichnamige Kinofilm zieht Hunderttausende ins Kino. Vier Kinderbücher hat er insgesamt geschrieben, jedem seiner vier Kinder eines gewidmet: „Es war wunderbar. Für jedes Kind ist etwas spezifisches entstanden.“ Mehr werden es nicht werden, meinte er einmal.

Foto (c) Isolde Ohlbaum