Wisinger, Marion - Goisern

Veröffentlicht am 25.03.2025
Eine erzählte Ortsgeschichte.
In Goisern (heute: Bad-Goisern am Hallstättersee), einer „protestantischen Rückzugsgemeinde“, die sich als „keck und widerständig“ begreift und wo man gern über die feinen Leute spottet, gehören neben alltagsgeschichtlichen Spuren von Wilderern und Vogelfängern auch Gedenktafeln und Themenwege zum Ortsbild. Aber wie die Autorin deutlich macht, reichen diese nicht aus, um „Geschichtsvergessenheit“ aufzuhalten. Man hat Zeit- und Sozialgeschichte durch „atmosphärische Mythen“ und „Brauchtumspflege“ ersetzt und die Bewohner:innen haben ihre Geschichte weitgehend verdrängt oder zurechtgebogen.
Wisingers Idee einer Goiserer Ortsgeschichte von 1900 bis 1945 und danach fußt auf dem Umstand, eine Fülle an Erinnerungen in eine Form zu bringen. Viele Menschen finden Einlass in den Text, in dem die Autorin Erinnerungen mit dem Duktus der Zeitgeschichte verknüpft. Der Fokus liegt auf dem vermeintlich Nebensächlichen und Beiläufigen. Dadurch entstehen „verschlungene Erzählbögen zwischen den unterschiedlichsten Milieus und deren Repräsentanten“.
Diese auf Oral History basierende Art der Innensicht fördert aufschlussreiche Details zutage. Durch das bewusst Skizzenhafte wird nichts festgeschrieben, sondern werden Spielräume geboten. Die Autorin nimmt lose Fäden des kollektiven Gedächtnisses auf und passt grob geschnittene Collagen und Splitter ins Zeitgeschehen ein. Der Überlebenskampf der Bewohner bildet dabei einen roten Faden.
Insgesamt 8 Erzählblöcke mit 59 flüssig zu lesenden Kapiteln hat das durch Fotografien in Schwarz-Weiß angereicherte, sehr schön gestaltete Buch zu bieten, für das Marion Wisinger in Archiven recherchiert und unzählige Gespräche geführt hat. Ihr Blick auf die „Goiserer Lebenswelten“, den Rebell und Philosophen Konrad Deubler oder den Bauern Josef Reisenbichler, dessen Lieder (Soziogramme alter Lebenswelt) Jahrzehnte später vom legendären Goiserer Viergesang eingespielt worden sind, auf die „Kriegsverbrechen der k.u.k.-Armee“, die „sozialen Missstände“, auf „Freizeitkultur und Fremdenverkehr“, die „Zeit der Depression“, auf den „Ständestaat im Ort“ und „Goisern im Nationalsozialismus“, auf „Vertreibung und Arisierung“, „Entnazifizierung und Aufarbeitung“ ist kritisch, klar und unbeeinflusst von einer gängigen Sichtweise, die diese Gegend gerne durch eine Patina aus Holz und Salz betrachtet.
Man liest gefühlvoll pointierte Texte, die auch dem scheinbar Unbedeutenden Aufmerksamkeit schenken. Verschwiegen wird nichts, weder über „Menschen, die man fortbrachte“ noch über fanatische illegale Nationalsozialisten, die sich später wieder abgewendet haben, oder jene Unauffälligen, die an der Front Frauen und Kinder ermordet haben. Genauso weist die Autorin auf eine sich von der großen Verelendung unter Kaiser Franz Joseph ableitende Habsburg-kritische Haltung der Bevölkerung hin, die eine Kaiser-Verehrung großteils ablehnt.
Marion Wisinger zeigt Trennendes auf und Verbindendes. Sie sieht ihre Ortsgeschichte in erster Linie als Versuch und Provokation, vor allem aber als „Liebesgeständnis“. Gerade als solches beeindruckt ihr Buch ungemein.
Andreas Tiefenbacher
Wisinger, Marion - Goisern
Eine erzählte Ortsgeschichte. Wien: Kremayr & Scheriau 2024. 208 S. : zahlr Ill. - fest geb. : € 26,95 (GE) ISBN 978-3-218-01426-7