Wulf, Andrea - Fabelhafte Rebellen

Veröffentlicht am 03.04.2023
Die frühen Romantiker und die Erfindung des Ich
Andrea Wulf, deren Biografie über Alexander von Humboldt ein Bestseller wurde, wendet sich in ihrem neuen Buch der Frühromantik zu, einer relativ kurzen Phase um die Wende zum 19. Jahrhundert, als die Romantik noch unschuldig war. Mittelpunkt der historischen Betrachtungen steht der Freundeskreis um Goethe, Schiller, Novalis und anderen.
Goethe war der Fixstern, um den die Kritiker, Übersetzer und Autoren Friedrich und August Wilhelm Schlegel planetengleich kreisten. Fichte revolutionierte das Denken, Novalis die Poesie. Das junge Genie Schelling überwand die Trennung von Individuum und Natur, Alexander von Humboldt wusste ziemlich alles über Fauna und Flora und die Beschaffenheit der Welt, sein Bruder Wilhelm drang in die Geheimnisse der Sprache ein. Dann ist da noch Hegel, dessen erstes großes Werk Furore machte, der kränkliche Schiller, der die jüngeren Dichter begeistern und nach Jena locken konnte – er war aber nicht nur anfällig für Krankheiten, sondern auch sehr leicht gekränkt. Und bald lösten sich auch die Bande, seine ehemaligen Bewunderer wurden zunehmend zu gehässigen Gegnern.
Andrea Wulf lässt den Leser fast unmittelbar teilhaben an den Dynamiken unter den Genies, an den Deutungs- und Machtkämpfen auf dem Feld der Literatur, an den Intrigen und Boshaftigkeiten, die hinterrücks brieflich oder über Zeitschriften ausgetauscht wurden. Der ältere Geheimrat Goethe ist dabei stets allgegenwärtig, steht oft zwischen allen Stühlen und versucht, zwischen den Fraktionen zu vermitteln. Doch die wenig romantisch anmutenden Zwistigkeiten häuften sich. Dorothea Veit und Caroline Schlegel etwa konnten sich gegenseitig ganz und gar nicht ausstehen. Eifersucht, Missgunst, Schicksalsschläge taten ihr weiteres, um das Experiment scheitern zu lassen und die Frühromantiker in alle Winde zu zerstreuen. Ihre Ideen aber waren in der Welt. Und wie Wulf in einem Epilog zumindest andeutet, waren sie mittlerweile weit über den deutschsprachigen Raum hinaus einflussreich.
Andrea Wulf gelingt es durchaus, den Begriff und das Konzept etwa des „romantischen Ichs“ dem Leser zu vermitteln und die Entstehung der modernen Auffassung von Individualität aus der frühen Romantik nachvollziehbar zu machen. Was man von dem kurzweiligen, anschaulich geschriebenen und hervorragend strukturierten Buch nicht erwarten sollte, ist philologische Detailarbeit. Wichtige Werke werden zwar gestreift, aber nicht eingehender untersucht. Die philosophischen Theoreme werden zwar umrissen, aber nicht in ihrer Tiefe weiter erläutert. Der von Friedrich Schlegel entwickelte romantische Ironie-Begriff zum Beispiel findet nicht einmal Erwähnung. Dennoch eine gut geschriebene Einführung und Übersicht.
Brigitte Winter
Wulf, Andrea - Fabelhafte Rebellen
Die frühen Romantiker und die Erfindung des Ich. München: Bertelsmann 2022. 525 S. : zahlr. Ill. - fest geb. : € 30,90 (GK) ISBN 978-3-570-10395-1