Yasmina Reza - Erforschung des Menschlichen

Yasmina Reza - Erforschung des Menschlichen

Veröffentlicht am 30.03.2022

Von Brigitte Winter

Yasmina Reza war Schauspielerin, schrieb dann aber Theaterstücke, Romane und Drehbücher, mit denen sie rasch bekannt wurde. Ein weltweites Publikum erreichte sie schließlich mit ihren Stücken „Kunst“, „Drei Mal Leben“ und „Der Gott des Gemetzels“, das 2011 von Roman Polanski mit Kate Winslet, Jodie Foster und Christoph Waltz verfilmt wurde und für das sie gemeinsam mit Polanski das Drehbuch verfasste.

Sie ist eine der berühmtesten französischen Autorinnen unserer Zeit und sagt über sich: „Mein Leben verlief durch und durch banal. Ich bin in Paris geboren, ging in Paris zur Schule, habe in Paris studiert. (…) Was jedoch weniger banal ist, ist meine Herkunft: Mein Vater war Iraner, meine Mutter Ungarin, meine Großeltern liegen irgendwo in Amerika begraben.“ Vor allem die Familie ihres Vaters blickt auf eine bewegte Geschichte zurück. Als sephardische Juden waren sie bis vor etwa 500 Jahren in Spanien ansässig, emigrierten von dort nach Persien, Ende des 19. Jahrhunderts nach Moskau, und 1918 schließlich (in den Wirren der russischen Revolution) nach Paris. Unter dem Anpassungsdruck konvertierten sie über die Jahrhunderte zeitweise, wenigstens äußerlich, zum Katholizismus oder zum Islam, und ihr Familienname wandelte sich von Gedaliah (hebräisch) über Reza (persisch) zu Rezaiov (russisch) und schließlich zurück zu Reza und – für den israelischen Zweig der Familie – zu Gedaliah.

Yasmina Reza, wurde als eines von drei Geschwistern am 1. Mai 1959 in Paris geboren. Ihre jüdische Mutter stammt aus Budapest, der jüdische Vater aus Sarmakand. Yasmina wuchs in Paris, der Wahlheimat ihrer Großeltern, auf – „mit wunderbaren Eltern, in kultivierten und wohlhabenden Bedingungen“. Musik hatte einen besonderen Stellenwert im Familienleben. Ihre Mutter war Violinistin, ihr Vater, von Beruf Ingenieur, spielte Klavier. „Ich würde meine Familie sicher nicht als Musikerfamilie bezeichnen, aber als Familie von passionierten Musikliebhabern. Mein Vater pflegte sich im Morgenmantel vor uns Kinder zu stellen und Beethovens Fünfte zu dirigieren, während dazu die Aufnahme mit den Berliner Philharmonikern lief.“ Die Tatsache, dass sie weder von ihrem Vater Deutsch gelernt hat noch von ihrer Mutter das Geigenspielen, kommentierte sie so: „Ich hatte gelernt, mich ohne Eltern zu entwickeln.“

Die Frage, wie es sich derzeit mit jüdischen und iranischen Wurzeln lebe, beantwortete sie 2014 so: „Ich habe keine spezielle iranische Ader. Ich habe nach nirgendwo eine Ader.“ Auf den Hinweis, sie habe im Roman „Nirgendwo“ festgehalten, sie bewahre von der Kindheit keine Spuren, kaum Erinnerungen, präzisierte Reza: „Ich denke, dass mir meine Eltern von ihrer Jugend, ihren Ländern, ihrer Sprache und auch von ihrer Religion nichts übertragen haben. Ich habe höchstens einen Gefallen für einige Dinge bewahrt, so etwa die Musik. Abgesehen davon kann ich nicht sagen, dass ich von irgendwoher komme. (…) Ich habe nie eine Heimat besessen (…), und ich lebe nun zufällig in Frankreich. Die einzige Heimat, die ich kenne, ist die französische Sprache.“

Nach ihrem Schauspielstudium (zunächst an der Universität Paris-Nanterre, später an der Ecole Internationale de Théâtre von Jacques Lecoq) hatte Reza zahlreiche Engagements auf französischen Bühnen in Stücken zeitgenössischer und klassischer Autoren. 1987 begann sie dann selbst zu schreiben: „Ich liebte das Theater, und ich liebte die Sprache, also war es logisch, für das Theater zu schreiben“. Die Erfolge ließen nicht auf sich warten. Bereits ihre ersten beiden Stücke wurden mit dem renommierten französischen Theaterpreis „Molière“ ausgezeichnet. Ihr drittes, „Kunst“, avancierte zu einem Welterfolg.

Kunst, Drei Mal Leben

„Art“ (1994, „Kunst“), Rezas drittes Theaterstück, wurde 1994 in Paris uraufgeführt und schnell zu einem Welterfolg. Es geht darum, dass eine langjährige Freundschaft von drei Männern durch ein Bild schwer auf die Probe gestellt wird. Einer der drei (Serge) hat ein „weißes Bild mit weißen Streifen“ gekauft, für 200.000 Francs (etwa 30.000 Euro). Er verteidigt sich und seine Entscheidung, der zweite (Marc) attackiert ihn, der dritte (Yvan) versucht zu vermitteln.

Ihre langjährige Freundschaft gerät ins Wanken. Die Komödie reizt nicht nur zum Lachen; das Lachen ist Thema des Stücks. Yasmina Reza: „Das Drama von ‚Kunst‘ ist ja nicht, dass Serge das weiße Bild kauft, sondern dass man mit ihm nicht mehr lachen kann.“ Zum autobiografischen Hintergrund ergänzt sie: „Die Geschichte ist mir passiert mit einem Freund, der ein weißes Bild gekauft hat. Er ist Dermatologe, und ich habe ihn gefragt: ‚Wieviel hast du dafür bezahlt?‘ Und er hat geantwortet: ‚200.000 Francs.‘ Und ich brüllte vor Lachen. Er allerdings auch. Wir sind Freunde geblieben, weil wir lachten. Als er das Stück las, lachte er auch. Es hinderte ihn nicht daran, sein Bild weiterhin zu lieben.“

Das Stück erhielt mehrere Preise, auch internationale und war ihr Durchbruch zur weltweit meistgespielten zeitgenössischen Dramatikerin. Mit der wachsenden Berühmtheit als Bühnenautorin blieben Angebote an die Schauspielerin Yasmina Reza aus – mit Ausnahme eines eher zufälligen Engagements in der Pariser Erst-Inszenierung ihres zweiten großen Theatererfolgs, „Drei Mal Leben“.

„Trois versions de la vie“ (2000, „Drei Mal Leben“) ist ein auf eine klassische Grundsituation reduziertes 4-Personen-Stück. Das Ehepaar Finidori (Hubert und Ines) besucht ein anderes, durch ein Versehen allerdings einen Tag zu früh, was den Hauptkonflikt noch schneller freilegt und zuspitzt. An sich geht es um die Frage, ob der Hausherr Henri seine Karriere durch seinen Gast Hubert protegieren lässt (beide Männer sind Astrophysiker); in den Vordergrund drängt sich an diesem Abend jedoch das Problem, wie Henri mit einer von Hubert scheinbar beiläufig erwähnten Nachricht umgeht, die seine vor dem Abschluss stehende dreijährige Forschungsarbeit möglicherweise zu Makulatur macht. Auch hat das Gastgeber-Ehepaar ein Kind, das aus dem Kinderzimmer heraus immer wieder nach den Eltern ruft, was immer wieder Streitereien um Erziehungsprinzipien verursacht. Was sich aus all dem an Konfrontationen und wechselnden Koalitionen entwickelt bzw. entwickeln könnte, wird auf der Bühne in drei „Versionen“ (so der Originaltitel) durchgespielt.

Das Stück betont damit den Kunstcharakter des Theaters, soll zeitlos und modern zugleich wirken, verzichtet als Konversationsstück weitgehend auf Aktion und setzt auf die psychologische Konfrontation der beteiligten Personen. Es changiert zwischen Banalität und Ernst und unterhält durch pointierte Dialoge. Als Boulevardtheaterstück wurde es allerdings durchaus kontrovers beurteilt. Im Zusammenhang mit dem Kosmopolitismus ihrer Familie bekannte Reza, ihre einzige Heimat sei die französische Sprache. Das habe auch Einfluss auf ihren Schaffensprozess, darauf, was ihr beim Schreiben wichtig sei. „Wie auf der Bühne geredet wird, interessiert mich mehr, als was da geredet wird. Es kommt häufig vor, dass ich Wörter verwende, weil sie an einer bestimmten Stelle gut klingen, und nicht, weil sie an dieser bestimmten Stelle richtig sind“. Diese besondere Affinität zum Klang der Sprache korrespondiert mit ihrer Wertschätzung für die Musik („Ich halte die Musik für die größte aller Künste“), führt aber nicht zum l'art pour l'art. Gerade ihre besten Stücke sind inhaltsreich und konfliktgeladen, ihre Figuren lebendig und emotional.

Ein verbindendes Element fast aller ihrer Hauptfiguren ist deren Herkunft aus einem großbürgerlich jüdischen Milieu, ein anderes ihr Bezug zu den Künsten. Beides deutet auf einen autobiografischen Hintergrund, zu dem sich Reza auch ausdrücklich bekennt. „Ich glaube, dass man wirklich gut nur über seine eigenen Obsessionen schreiben kann.“ Allerdings bedeutet das für sie nicht, Erlebtes zu beschreiben, sondern Möglichkeiten zu erkunden: „Für mich ist Schreiben eine Erforschung des Menschlichen, ein Erschließen des Unbekannten. Das Schreiben erlaubt mir, andere Leben zu leben.“

In ihre Dramen werden häufig Einflüsse Tschechows gedeutet, was Reza höchstens für ihre ersten beiden Stücke gelten lässt. Die gängige Zuordnung zum Boulevardtheater (häufig in Deutschland) weist sie entschieden zurück. Zu dieser Etikettierung kommt es am ehesten dann, wenn seitens der Inszenierung aus Rezas Witz Klamauk gemacht, wenn nicht wahrgenommen wird, wie vielschichtig ihre Stücke, wie nah auch am tödlichen Ernst sie sind.

Ihr Verhältnis zum Lachen und Glücklichsein beschreibt Reza so: „Ich lache gern, aber das bedeutet nicht, dass ich in dem Moment auch glücklich bin. (…) Die geistreichsten Menschen sind immer Pessimisten. Sie sind auch die humorvollsten. Ich habe noch nie mit einem Optimisten richtig gelacht. (…) Die Aufgabe der Kunst ist es, ein zusätzliches Licht auf das Leben zu werfen und unserem an sich doch ziemlich trübseligen Dasein ein bisschen Glanz zu verleihen. Die Kunst soll den Menschen in eine Dimension versetzen, die über dem Alltag steht, sie soll ihn klüger machen. Ob der Mensch dadurch auch glücklicher wird, wage ich zu bezweifeln.“ Ende der 90er Jahre erweiterte Reza ihr Werk durch Drehbücher und Prosa. Auf die Frage, ob sie beim Wechsel zur Prosa größere Freiheiten gesucht habe, antwortete sie, damit sei es „ein bisschen wie mit dem Leben: Es gibt tausend Möglichkeiten, aber die wenigsten davon lassen sich realisieren. Wenn man sich beim Schreiben nicht früh genug auf gewisse Dinge konzentriert, verwandelt sich die totale Freiheit schnell in Seenot. Deshalb mag ich Vorgaben, auch und gerade bei der Prosa. In der Schule wurde uns manchmal die Aufgabe gestellt, eine Geschichte mit einer bestimmten Anzahl Wörtern, einer bestimmten Anzahl Figuren und einem einzigen Schauplatz zu erfinden – ich liebte das.“ Deshalb sei und bleibe das Drama ihre favorisierte Gattung: „Das moderne Theater ist gewissermaßen der Gipfel an Vorgaben, das Königreich der Konzentration. Sie können nicht 400 Leute auf die Bühne stellen, Sie können nicht kommentieren, was die Figuren sagen, nicht korrigieren, was sie denken, Sie verfügen nur über begrenzte Zeit. Die Kunst besteht darin, innerhalb dieses fixen Rahmens die größtmögliche Fantasie zu entwickeln.“

Eine Verzweiflung

Ihr erster Roman „Une Désolation“ (1999, „Eine Verzweiflung“) ist ein Monolog-Roman, ein grandioses Einmanntheater, ein treffend und genau komponiertes Szenenmosaik. Der ganze Text ist ein assoziativ abschweifender und stets wieder zum Thema zurückkehrender Monolog eines Vaters an seinen abwesenden Sohn zum Thema „Leben und Glück“. Im Kopf des Lesers werden zeitgeschichtliche, generationelle und allgemein existenzielle Anspielungen auf Leben, Glücklichsein und Tod immer wieder durcheinandergewirbelt. Alle Anflüge von Schwerfälligkeit und Trübsinn fehlen jedoch hierbei.

Man lernt Samuel kennen, der in seinem Alltag von glücklichen Leuten umstellt ist. Seine zweite Frau Nancy, die im Alter ihre allgemeine Menschenliebe und positive Lebenseinstellung entdeckt, sich in ihrer Haut angeblich wohl fühlt und doch heimlich große Mengen von Alterskosmetik verbraucht, hält ihrem Gatten seinen zur Fettleibigkeit neigenden Trübsinn vor. Seine Tochter, deren Gatte allsonntags mit dem Verein jüdischer Wanderfreunde durch die Provinz pirscht, verweist den missmutigen Vater aufs Vorbild seines Sohns, ihres Bruders: Ein Lebenskünstler und Abenteurer des Müßiggangs ist dieser Sohn, der stets gerade von einem fernen Sonnenstrand heimkehrt. „Er ist glücklich“, sagt die Schwester, „er genießt das Leben.“ Das aber ist es gerade, was Samuel nicht in den Kopf will: dieses Glücklichseinwollen in der Ambitionslosigkeit, diese Zufriedenheit der Genügsamen im Wohlstand, als wäre alles längst getan, diese friedfertige Willensschwäche der Anständigen und ihre Unfähigkeit zur Tat. Sie kommt dem einst aktiven Rentner, der seine innere Unruhe nun mit Gärtnerarbeit betäubt, als der Gipfel der Monotonie vor, die er ein Leben lang floh. „Innerhalb einer Generation fegst du mein einziges Credo hinweg“, sagt er in der Vorstellung zum Sohn: „Erklär mir das Wort ‚Glück‘!“

Adam Haberberg

Der titelgebende Antiheld „Adam Haberberg“ (2004) ist ein Melancholiker des Mittelstands in seinen späten Vierzigern. Er ist ein erfolgloser Schriftsteller, sozusagen ein Mitteleuropäer Ende vierzig, der mit Leben und Lieben im Grunde abgeschlossen hat, aber als Schriftsteller immerhin noch zu sagen vermag, an was er leidet. Er lässt sich von einer ehemaligen Schulkameradin, jetzt Kugelschreiberverkäuferin, zu einem Abend überreden, an dem alle großen Fragen noch einmal auf den Tisch kommen.

Der "Kunstgriff" Rezas besteht darin, den Tragödienstoff ins mittelständische Milieu zu übertragen. Daraus entsteht ein "trockener Witz, der nur selten ins Possierliche verrutscht. Zudem hat Adam Haberberg auch eine Augenkrankenheit und leidet unter einem verschleierten Blick, der die Dinge anders als gewohnt wahrnehmen lässt. Wie auch Rezas Stücke ist der Roman an der "Grenze zwischen Sein und Schein" angesiedelt. Yasmina Rezas Roman kann man durchaus als unabsichtliche Wahrheitssuche, als eine Art Gesellschaftsspiel, als Partyspaß, auffassen, weshalb es letztlich auch nie darum geht, wirklich die Wahrheit herauszufinden

Nirgendwo

In „Nulle part“ (2005, „Nirgendwo“) versammelte Reza kurze fiktive und autobiografische Szenen, Geschichten über Familie und Freunde, ein Selbstporträt in Vignetten. Es sind Momentaufnahmen in anekdotisch-philosophischen Erzählungen über ihre beiden Kinder und ihre eigene wurzellose Kindheit. Momente zärtlicher Aufmerksamkeit, heiter und melancholisch zugleich. In den wunderbaren Prosaminiaturen erzählt sie etwa von der Freundin Moïra, der sie viele ihrer Bücher gewidmet hat, und sie erinnert sich an ihre Eltern. Dieser Erinnerung folgt ein längerer Essay über die Suche nach einer eigenen Identität: Als Tochter einer aus Ungarn stammenden Mutter und eines Vaters, der jüdische, iranische und russische Wurzeln hatte, ließ sich die Frage nach der Herkunft für Reza nie leicht beantworten: "Welcher Unterschied besteht zwischen den Menschen, die einen eigenen Winkel haben, und denen, die keinen haben? Was nutzt ein Ort, eine Gegend, Wurzeln, weil man doch sowieso – ?" Das Unsagbare, das sich in dem Gedankenstrich ausdrückt, meint den Tod, also die unaufhaltsam verstreichende Zeit. Sie ist der Anfangs- und der Endpunkt des Rezaschen Schreibens, die ihr zu verdankenden Abnutzungserscheinungen bilden dabei aber nicht nur die Grundlage der köstlichen Szenen des furchtbar normalen Alltags, an denen sich ihre Leser immer wieder erfreuen. Sie sind auch der Kern der auf sie selbst bezogenen Reflexionen.

Der Gott des Gemetzels

„Le Dieu du carnage“ (2006, „Der Gott des Gemetzels“) beginnt damit, dass die Eltern des elfjährigen Bruno Houillé, des "Opfers" einer Prügelei mit dem gleichaltrigen Ferdinand Reille, die Eltern des "Übeltäters" zu sich eingeladen haben, um den Vorfall wie vernünftige Menschen zu klären. Die beiden Elfjährigen haben sich auf einem Spielplatz geprügelt und einem der beiden Jungen wurden dabei Zähne ausgeschlagen. Was als friedlicher Austausch über Zivilisation, Gewalt und die Grenzen der Verantwortlichkeit beginnt, entwickelt sich schon bald zu einem Streit voller Widersprüche und grotesker Vorurteile. Und schließlich platzt die dünne Haut der bürgerlichen Kultiviertheit auf: Vier Erwachsene geraten aus der Fassung. Brutal und rücksichtslos werden Grenzen überschritten, provoziert und schließlich deutlich, dass sie alle hinter ihrer zivilisierten Maske einen „Gott des Gemetzels“ anbeten. Auf dem Schlachtfeld dieser Tragikomödie versinkt dann am Ende nicht nur ein Handy in einer Tulpenvase.

Frühmorgens mit Sarkozy

Mit „L'aube le soir ou la nuit“ (2007, „Frühmorgens, abends oder nachts“) schrieb Reza eine lange Reportage über Nicolas Sarkozy, den sie während des Präsidentschaftswahlkampfes ein Jahr lang begleitete. Auf die Frage, ob der von ihr beschriebene Mann, „der zwar politisch triumphiert, sich aber persönlich kaum freuen kann“, „nicht eine Figur aus ihrem neuen Roman“ sein könne, erwiderte sie: „Genau (…) In Sarkozys Fall ist etwas passiert, das ich nachvollziehen kann. Er wurde bequem gewählt, aber gleichzeitig von seiner Frau verlassen. Während der Kampagne spielten die beiden ein Paar, in Wirklichkeit war aber sein Privatleben sehr kompliziert, während er erfolgreich Wahlkampf betrieb.“

Im Frühjahr 2006 fragte Yasmina Reza den damaligen französischen Innenminister Nicolas Sarkozy, ob sie ihn auf seiner Wahlkampftour begleiten dürfe und er hat sofort zugestimmt: Ein Jahr lang ist sie ihm gefolgt, von Paris bis in die tiefste Provinz, nach New York, London und Berlin, in Stahlfabriken, Schulen und Krankenhäuser und zu internen Besprechungen, bei denen kein Journalist zugelassen war. Sie erlebt den späteren Präsidenten von Frankreich hinter den Kulissen aus nächster Nähe. Distanziert und bisweilen ironisch erzählt sie vom Leben Sarkozys, vom Pathos des politischen Alltags und seiner Monotonie. Zugleich beschreibt sie in ihrem Wahlkampf-Tagebuch voller feiner Beobachtungen und Details die Politik als suggestive Inszenierung.

Glücklich die Glücklichen

In „Heureux les heureux“ (2013, „Glücklich die Glücklichen“) tauchen Menschen wie du und ich auf, in kurzen, mit ihren jeweiligen Namen überschriebenen Kapiteln erzählen sie von sich – nicht in Form von großangelegten Geschichten, sondern in Momentaufnahmen und Szenen des Alltags wie jener, in der das Ehepaar Robert und Odile Toscano im Supermarkt in einen grotesken Streit gerät, weil er angeblich den falschen Käse gekauft hat und sie zu viele Süßigkeiten für die Kinder. Oder der, die sich in einem kleinen Dorf im Norden Frankreichs ereignet, wo sich Rémi Grobe tatsächlich für ein paar Stunden in Odile Toscano verliebt, die er sonst nur zu gelegentlichen Abenteuern trifft. Erzählt sind diese Geschichten in Form von inneren Monologen, peu à peu stellt man dabei fest, dass sich die Figuren kennen, mal sind sie befreundet, mal verbinden sie heimliche Affären, mal die Leidenschaft fürs Glücksspiel. So lernen wir jeden Einzelnen aus unterschiedlichen Perspektiven kennen, so spiegelt in einem Verfahren ohne Grund eine Existenz die andere, und so entsteht, wie in einem Puzzlespiel, allmählich das Bild einer Menschlichen Komödie der Neuzeit. In ihr sind alle Figuren ständig darum bemüht, vor den anderen im besten Licht zu erscheinen, manche wissen, wie brüchig die Fassade ist, hinter der sie sich verbergen, andere haben es erfolgreich verdrängt. Hier ist die Welt eine Bühne und das Leben eine Rolle, die man spielt. Die Mitspieler sind gleichzeitig die Gegner, Ehepartner, Freunde, Kinder und Kollegen. Gewonnen hat, wer möglichst selten den Vorhang lüften muss.

Babylon

In „Babylone“ (2016, „Babylon“) zeigt Yasmina Rezas wieder ihren Witz und ihre Kunst, aus "Bagatellen" große Dramen zu machen. Wenn etwa neurotische Frauen im kleinen Schwarzen die Contenance verlieren. Leichthändig zerlegt Reza Paarbeziehungen und skizziert ihre Figuren mit wenigen Strichen. Elisabeth ist keine erfahrene Gastgeberin einer Frühlingsparty und sehr nervös. Viel zu viele Gläser und Stühle. Dennoch scheint alles gut zu gehen, bis sich Jean-Lino und Lydie, die Nachbarn von oben, wegen eines Bio-Hühnchens in die Haare kriegen. Als Elisabeth und ihr Mann schon im Bett liegen, klingelt es. Es ist Jean-Lino, der erzählt, dass er Lydie gerade erwürgt hat. Er wird Elisabeth bitten, die Leiche mit ihm zusammen aus dem Haus zu schaffen. Der Roman entwickelt sich zu einer Krimikomödie mit filmreifen Dialogen und Rezas bekannten Stärken, der Situationsdramaturgie und straffen Schnürung der Handlung, die schließlich Elisabeth vor den Konflikt stellt, ob sie dem Mörder helfen soll die Leiche zu beseitigen oder nicht. Da kommt auch Rezas Sarkasmus, die Skurrilität und Komik ihrer Figuren richtig zum Tragen.

Serge

Ihr neuer Roman, „Serge“ (2022), erzählt eine Familiengeschichte. Im Zentrum stehen drei Geschwister: Serge, Jean und Nana Popper. Sie sind längst erwachsen, gehen auf die 60 zu, und werden dennoch in ihrer Selbstwahrnehmung für immer die drei Popper-Kinder sein, gefangen in alten Mustern und Konflikten. Yasmina Reza dazu in einem Interview: „Geschwister interessieren mich. Das ist eine besondere Verbindung, die schwer zu charakterisieren ist, weil sie die unterschiedlichsten und leidenschaftlichsten Formen annehmen kann. „Serge“ ist das Porträt eines Mannes aus Sicht seines jüngeren Bruders. Diese subjektive und parteiische Erzählweise war die Haupttriebfeder für das Schreiben.“

Frédéric Beigbeder nannte das Buch „eine Komödie über Auschwitz“. Doch das war nicht ihre Intention: „Ich würde „Serge“ nicht als Komödie einstufen. Natürlich lacht man an manchen Stellen, wie immer bei mir, aber das Ganze erscheint mir eher düster. Noch weniger ist es eine „Komödie über Auschwitz“. Für mich ist Auschwitz 1940/1944. Punkt. Der Ort, der heute diesen Namen trägt und an dem ein Kapitel des Romans spielt, hat nichts mehr damit zu tun. In diesem Zusammenhang möchte ich gleich einen wichtigen Punkt klarstellen: Der Besuch der Familie Popper in den Lagern ist ein wichtiger Teil von „Serge“, aber nicht der Kern des Buches. Ich möchte nicht zu Missverständnissen in dieser Hinsicht beitragen.“ Es ist ein meisterliches Buch über eine belastete, verwirrte und sympathische Familie. Reza gelingt ein Meisterwerk. 

„Die tröstlich gemeinten, oft allzu naiven Erzählungen, mit denen wir uns über den Alltag retten, dekonstruiert sie komisch, aber gründlich, so Nils Minkmar ("Süddeutsche Zeitung"), denn "es gibt keine dem Grauen der Shoah angemessene moralische Empfindung, keine Lebensreform, die davon entbinden würde, sich immer wieder an eine Interpretation der Taten und ihrer Folgen wagen zu müssen. Sie begegnen uns in den Nachrichten, im alltäglichen Antisemitismus, bewegen zu Fragen, sogar zu historischen Untersuchungen der Familie und der Nachbarschaft. 'Serge' hat für sein Publikum keinen Ausweg parat, keine zehn tollen Tipps für ein Leben nach dem Holocaust und dem Versterben der Zeitzeuginnen, aber gerade indem Yasmina Reza lustvoll die Vergeblichkeit aller Strategien, damit klarzukommen demonstriert, indem sie alle postmodernen Identitätssuchen souverän im Abseits enden lässt, eröffnet sie einen eigenen Weg, den der Literatur. Dieses Buch gehört zum Besten, was es derzeit zu lesen gibt. Reza erinnert an unsere irdische Unbeholfenheit, unsere Überforderung und Ratlosigkeit und indem sie das tut, mit den Mitteln der Sprache – kongenial ins Deutsche übertragen von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel – spendet sie Trost: Es geht allen so, du bist nicht allein.“

Foto: (c) Pascal Victor